Interpretation "Die gestundete Zeit" von Ingeborg Bachmann

Das Gedicht gibt den Titel für den Lyrikband Die gestundete Zeit, der 1953 in der Deutschen Verlags-Anstalt erscheint. Die zeitgenössische Literaturkritik sieht darin die Themen der Nachkriegsliteratur und der Literatur zu Beginn der 1950er Jahre vereint. Das Gedicht arbeitet mit Metaphern und Assoziationen, ohne einen kontextuellen Rahmen zu erzeugen. Es wird nicht klar, aus welcher Position heraus gesprochen wird. Es beginnt und endet mit der gleichen Zeile („Es kommen härtere Tage“), die am Ende eine spürbar intensivierte Intention ausdrückt. Dazwischen liegen drei unterschiedlich lange Strophen. In der 1. Strophe begegnen wir einer Auffassung von Zeit, die diese vom Ewigen, Dauerhaften abspaltet und in Stunden einteilt („gestundete Zeit“). Zeit wird hier absehbar, als begrenzt erfahren, und zwar in verschiedener Hinsicht: das Lebensende kann nah sein, die Lebenszeit wird kürzer, Zeit bekommt eine individuelle Dimension, sie erscheint am Horizont und wird sichtbar für das Individuum. Auch diese Metapher wird wiederholt, allerdings bereits am Ende der ersten Strophe. Die Wiederholung erhöht die Kraft der Aussage. Die mit 'Du' angeredete Person verweist auf den Dialogcharakter des Gedichts. Ein lyrisches Ich spricht zu einem Du, dem es in der 1. Strophe noch Zeit einräumt, auch wenn diese begrenzt ist. Das angesprochene Du wird aufgefordert, auf eine Reise zu gehen („Schuh schnüren“), Besitz hinter sich zu lassen und Beziehungen zu lösen („Hunde zurückjagen“). Die folgende Beschreibung der „Eingeweide der Fische“ und „Ärmlich brennt das Licht“ verweisen auf eine Kargheit und Ödnis, eine intensive Kälte der Atmosphäre.

Diese Atmosphäre des Hoffnungslosen greift die 2. Strophe auf und steigert die Bilder und Motive der 1. Strophe. Die Figur der Geliebten wird eingeführt, die nicht nur im Sand versinkt, sondern den „Abschied nach jeder Umarmung“ in Kauf nimmt, ein 'Er', die vierte Figur im Gedicht, behandelt die Geliebte autoritär und herrisch, zerstört die Beziehung zwischen dem Du und der Geliebten.

Die letzte Strophe beinhaltet direkte Aussagen an das „du“, zeitlich besetzte Worte wie „bald“ aus der 1. Strophe fehlen komplett. Das radikale Lösen aus jeder Beziehung, jedem Halt, jeder Sicherheit, wird befohlen. Die Geliebte, die Hunde, die Fische, sogar das Licht sollen losgelassen bzw. gelöscht werden. Damit steht am Ende des Gedichts nicht Licht, sondern Finsternis, die düstere, drückende Atmosphäre verdichtet sich zu einem schwarzen Nichts. In diese Stimmung hinein bricht der erste Satz des Gedichts „Es kommen härtere Tage“ und evoziert, dass diese längst da sind.