Interpretation "Woyzeck" von Georg Büchner (Seite 3)

Woyzeck ist wesentlich mehr als eine sozialpsychologische Einzelstudie. Immer wieder ist seine Modernität betont worden, was nicht allein auf die dramaturgisch-formalen Mittel zurückzuführen ist, ebenso wenig wie auf die Tatsache, dass hier zum ersten Mal der 'Vierte Stand' – in noch größerem Maße als in Dantons Tod – zum Gegenstand literarischer Behandlung wird. Woyzeck ist ein Aufschrei der "Kreatur, wie sie Gott gemacht"; in der Figur des Titelhelden spiegelt sich aber nicht nur das Leiden des von der "menschlich Societät" missbrauchten Individuums, sondern zugleich eine sehr viel weiterreichende, vom gesellschaftlichen Standort unabhängige Problematik: die fundamentale Einsamkeit des (modernen) Menschen.

Das ist das zentrale Thema der Woyzeck-Fragmente: die losen Szenen wirken wie obsessive Variationen über die Kälte einer Welt, die, nicht nur für die Unterdrückten, alle sinnstiftenden Strukturen verloren hat. Ob des Doktors sarkastischer Umgang mit dem Hauptmann, des Gerichtsdieners zynische Freude über einen "Mord, so schön als man ihn nur verlangen tun kann" oder des Tambourmajors verzweifelter Wunsch: "Ich wollt die Welt wär Schnaps, Schnaps" – die Trostlosigkeit, die das Szenario bestimmt, ist allgegenwärtig.

Insofern kann das (Anti-) Märchen der Großmutter, die nihilistische Kontrafaktur des Sterntaler-Stoffes, als Kurzparabel in Beckettscher Manier gelesen werden. Die Ausgangssituation ("war Alles tot und Niemand mehr auf der Welt") kennzeichnet einen Zustand der völligen Inkommunikation; der Versuch, diese durch transzendente Instanzen zu überwinden ("wollt’s in Himmel gehn") scheitert: Der Mond erweist sich als "ein Stück faul Holz", die Sonne als "ein verwelkt Sonnenblum". Die traditionellen 'metaphysischen Trostspender' werden als Illusionen entlarvt. Was bleibt, ist die beklemmende, aussichtslose Realität: "[...] und wie’s wieder auf die Erd wollt, war die Erd ein umgestürzter Hafen und war ganz allein und da hat sich’s hingesetzt und gerrt und da sitzt es noch und ist ganz allein."

Woyzeck ist das Drama der Ungeborgenheit des Menschen in einer entgötterten und entmenschlichten Welt.

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