Interpretation "Effi Briest" von Theodor Fontane (Seite 4)

Nach und nach baut sich Effi eine Kindheitskonstellation auf mit dem Apotheker Gieshübler als 'Ersatzvater', Roswitha als Kindermädchen und schließlich der eigenen Tochter als "liebes Spielzeug". Trotzdem wird Effi erwachsen. Auf Dauer kann diese Konstruktion ihre Bedürfnisse als Frau kaum befriedigen, und Innstetten ist aus offensichtlichen Gründen nicht der Mann, der die entstehende emotionale Lücke füllen kann. Die Affäre mit Crampas erscheint unter diesen Umständen als geradezu vorprogrammiert: "die Kugel war im Rollen, und was an einem Tage geschah, machte das Tun des anderen zur Notwendigkeit." Effis Kommentar bezieht sich zwar auf ihre Begegnungen mit Crampas, läßt sich aber durchaus auf die vorangegangene Entwicklung ausdehnen.

Doch im Grunde genommen ist die Figur Crampas austauschbar, denn er füllt nur vorübergehend eine Leerstelle aus – und auch er ist keineswegs an einer dauerhaften Verbindung mit Effi interessiert. So gestaltet sich der Ehebruch ebenso konventionell wie vorher die Eheschließung, und als der Umzug nach Berlin das Verhältnis beendet, ist Effi eher erleichtert und identifiziert sich bald mit ihrer Rolle als Ehefrau und Mutter, die sie jetzt erst für sich annimmt.

Damit hätte die Geschichte ein harmloses Ende nehmen können, aber Innstettens zufälliges Entdecken der Briefe nach sechs Jahren setzt neue Mechanismen in Gang. Wieder ist 'die Kugel im Rollen', diesmal allerdings durch den rigiden Ehrenkodex, dem Innstetten verpflichtet ist. "Fühlen Sie sich so verletzt, beleidigt, empört, daß einer weg muß, er oder Sie?" fragt Wüllersdorf, und Innstetten verneint. Aber seine persönliche Bereitschaft, die Angelegenheit zu vergessen, zählt nichts gegen die Macht der gesellschaftlichen Norm. "Und dagegen zu verstoßen geht nicht; die Gesellschaft verachtet uns, und zuletzt tun wir es selbst und können es nicht aushalten und jagen uns die Kugel durch den Kopf."

Mit der nun eintretenden Wende scheint das Schicksal als ideologisch motivierte Gerechtigkeitsinstanz zu wirken. Crampas fällt, Effi wird durch die Scheidung geächtet und stirbt schließlich. Damit wären die 'Täter' bestraft, und Effis spätes Verständnis für die Handlungsweise ihres Mannes käme einer Läuterung gleich: "Was sollt’ er am Ende anderes tun? [...] Denn er hatte viel Gutes in seiner Natur und war so edel, wie jemand sein kann, der ohne rechte Liebe ist."

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