Interpretation "Schach von Wuthenow" von Theodor Fontane (Seite 4)

Was nun geschieht, erfahren wir erst später, als Victoire ihrer Mutter beichtet, dass sie schwanger ist. Warum hat sich der zurückhaltende Schach, der, wie Victoire sagt, "etwas konsistorialrätlich Feierliches" hat, derart hinreißen lassen? Bülow hat eine eindeutige Antwort parat: "Wie lag es denn? Ein Offizier verkehrt in einem adligen Hause; die Mutter gefällt ihm, und an einem schönen Maitag gefällt ihm auch die Tochter, vielleicht, oder sagen wir lieber sehr wahrscheinlich, weil ihm Prinz Louis eine halbe Woche vorher einen Vortrag über 'beauté du diable' gehalten hat."

Doch so einfach liegt der Fall bei Schach nicht: Dem seltsamen Vortrag von Prinz Louis hat Schach eher mit Widerwillen zugehört; es ist daher kaum anzunehmen, dass er von diesen Kapriolen sonderlich überzeugt wurde. In der gesamten Szene mit Victoire bleibt Schach – wie überhaupt in der ganzen Erzählung – der Reagierende, man kann sogar sagen: der Überwältigte. Erst als sie aus der Rolle fällt, gibt auch er seine Zurückhaltung auf, erst als ihre aufgewühlten Gefühle hervorbrechen, geraten auch Schachs Gefühle in Wallung, und erst dann sieht er die Worte des Prinzen in einem anderen Licht. Da Schach immer aufrichtig ist und niemandem etwas vorspielt, muss man auch davon ausgehen, dass sein Ausruf "War ich denn blind?" ehrlich gemeint ist: Er sieht Victoire tatsächlich mit anderen Augen, seine Wahrnehmung hat sich für einen Moment verändert. Die Intensität von Victoires hervorbrechenden Gefühlen ist dafür verantwortlich, sodass der Prinz schließlich tatsächlich recht hat mit seiner Behauptung: "Wer die Kraft der Liebe hat, ist auch liebenswürdig."

Wie falsch Bülow Schach sieht und wie wenig er in der Lage ist, seiner Persönlichkeit gerecht zu werden, wird vor allem deutlich, als er behauptet, "Schachs Eitelkeit hat ihn zeitlebens bei voller Herzenskühle gehalten." Schach mag eitel sein, doch er hat kein kaltes Herz, im Gegenteil ist er mitfühlend und lässt sich viel zu leicht hinreißen.

So ist er durchaus bereit, einer Heirat zuzustimmen, doch das Erscheinen der Karikaturen wirft ihn völlig aus der Bahn, und er tritt eine regelrechte Flucht nach Wuthenow an. Dort treiben ihn die Motten – ein Symbol seiner quälenden Gedanken – aus dem Haus, und er findet erst wieder Schlaf, als er mit einem Boot auf dem See treibt. Diese Szene ist oft als symbolische Vorwegnahme seines Todes gedeutet worden – doch ein anderer Aspekt steht noch mehr im Vordergrund: Als er aufwacht, ist er wirklich erquickt, seine Kraft ist zurückgekehrt, und er nimmt die boshaften Angriffe auf seine Person zumindest für kurze Zeit nicht mehr so ernst. Das naturnahe Leben, so sehr es ihn schreckt, hätte also auch sein Gutes, denn die Natur kann ihn offenbar von dem Druck befreien, den die Gesellschaft ihm aufbürdet. Zurück in der Zivilisation, kommen die quälenden Gedanken jedoch bald wieder.

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