Interpretation "Die Leiden des jungen Werthers" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 3)

Aufschlussreicher ist die Tatsache, dass er auf seiner Rückkehr eine 'Wallfahrt' zu seinem Geburtsort unternimmt, wo ihn "manche unerwarteten Gefühle" ergreifen. Welche es sind, wird nicht explizit gesagt, aber offensichtlich liegt in Werthers (früher) Kindheit ein, vielleicht der Grund für seine Leiden. Wir erfahren nichts Näheres über die familiäre Situation, außer dass der Vater früh verstorben ist und dann die Mutter "herausfuhr, [...] um sich in ihre unerträgliche Stadt einzusperren." Und doch deuten einige Passagen auf etwas, das nach heutiger Terminologie als narzisstische Störung bezeichnet wird. Da ist von einer "Schulstube" die Rede, "wo ein ehrlich altes Weib unsere Kindheit zusammengepfercht hatte"; Werther erinnert sich lebhaft "der Unruhe, der Tränen, der Dumpfheit des Sinnes, der Herzensangst, die ich in dem Loche ausgestanden hatte."

Er erinnert sich noch an mehr: "Stundenlang konnte ich hier [eine bestimmte Stelle außerhalb der Stadt] sitzen und mich hinübersehnen, [...] und wenn ich denn um die bestimmte Zeit wieder zurück mußte, mit welchem Widerwillen verließ ich nicht den lieben Platz!" Und auch, dass er am Fluss "dem Wasser nachsah, mit wie wunderbaren Ahndungen ich das verfolgte, wie abenteuerlich ich mir die Gegenden vorstellte, wo es nun hinflösse [...], bis ich mich ganz in dem Anschauen einer unsichtbaren Ferne verlor." Kein Wort von der Mutter – an die lässt er im vorletzten Brief an Wilhelm ausrichten, "daß ich sie um Vergebung bitte wegen all des Verdrusses, den ich ihr gemacht habe."

Dem empfindsamen, kreativen, intelligenten und gebildeten Werther fehlt etwas, etwas Lebenswichtiges. Und in Lotte erkennt er intuitiv, gerade dank seiner Sensibilität, einen Menschen, der diese aus frühester Zeit gebliebene Sehnsucht erfüllen kann. Kein Zufall, dass sie als älteste Tochter eines Witwers gegenüber ihren Geschwistern eine ausgeprägte Mutterrolle einnimmt. Wenn Lotte einmal wünscht, Werther wäre ihr Bruder, so drückt das nur vordergründig die idealisierte Vorstellung einer Liebe ohne erotisches Verlangen und die damit verbundenen Komplikationen aus: in ihrer Phantasie reiht sie ihn unter ihre Geschwister ein, denen sie ja auch die Mutter ersetzt. Tatsächlich balgt und neckt sich Werther mit Lottes Geschwistern, als wären es seine, und in einem Brief ruft er aus: "Was man ein Kind ist! Was man nach so einem Blicke geizt! Was man ein Kind ist!"

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