Interpretation "Galgenlieder" von Christian Morgenstern

"Ich habe keinen Feind von ihm kennengelernt." Der, der dies schreibt, der Schauspieler Friedrich Kayßler, ist Morgensterns nächster, ihn das gesamte Leben begleitender Freund. Mit keinem anderen Menschen hat Morgenstern so viele Briefe gewechselt wie mit ihm. Kayßler entwirft das Bild eines Menschen, der – alles andere als ein Ästhet – aus seinem Innersten, aus seinem ganzen Wesen heraus die Welt mitsamt ihren noch so kleinen, unscheinbaren Dingen in sein Herz geschlossen hat; ein Herzensbedürfnis, so scheint es, ist es ihm, sich der Welt zu nähern, sie sich poetisch anzueignen, und das ist für Christian Morgenstern nur möglich durch Zuneigung und Liebe.

Harmonie, so schreibt Martin Beheim-Schwarzbach, sei Morgensterns (literarisches) Laster gewesen – falls man es denn als solches bezeichnen wolle. "Harmonie – wo nicht mit der Umwelt, so doch mit der Weltordnung, mit Gott, und eine Gläubigkeit und Frömmigkeit, die die Beimischung von Bösem ausschließt."

Harmonie. Das Wort verwundert, denkt man an Morgensterns Grotesken, an seine – als solche wird sie häufig bezeichnet – "Unsinnslyrik", an den makabren Beigeschmack der Galgenlieder. Doch bedarf es kaum eines zweiten Blicks, um das Augenzwinkernde, das koboldhaft-schelmische Grinsen dieses skurrilen Humors wahrzunehmen, der nur an dem vorübergeht, der in verbiesterter Ernsthaftigkeit sich selbst als Mensch, als lachendes und weinendes, empfindendes Wesen nicht mehr wahrzunehmen vermag; Morgensterns Humor ist ein Vehikel zur Überbrückung der Disharmonien, die die Welt anfüllen.

"Dem Kinde im Manne" sind die Galgenlieder daher gewidmet. Zur 15. Auflage im Jahr 1913 schreibt Morgenstern dazu:

"In jedem Menschen ist ein Kind verborgen, das heißt Bildnertrieb und will als liebstes Spiel- und Ernst-Zeug nicht das bis auf den letzten Rest nachgearbeitete Miniatür-Schiff, sondern die Walnußschale mit der Vogelfeder als Segelmast und dem Kieselstein als Kapitän. Das will auch in der Kunst mit-spielen, mit-schaffen dürfen und nicht so sehr bloß bewundernder Zuschauer sein. Denn dieses 'Kind im Menschen' ist der unsterbliche Schöpfer in ihm [...]."

Aus den Galgenliedern spricht zuallererst kindliches Vergnügen am Spiel, dem die ganze Welt als Spielplatz offen steht, das sich der Welt bemächtigt und sie, und vordergründig alles Mächtige, das sich allzu gewichtig nimmt, in ein anderes Licht taucht – "Man sieht vom Galgenberg die Welt anders an, und man sieht andre Dinge als Andre."

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