Interpretation "Der verwundete Sokrates" von Bertolt Brecht

Brechts Kalendergeschichte Der verwundete Sokrates handelt von Wahrheit. Und von allen Abarten und Varianten der Wahrheit. Also auch von der Lüge, von der Verstellung und vom Verschweigen. Und Brecht wäre nicht Brecht, würde er dem Leser eine eindeutige Aussage servieren, würde er ihm nur eine einzige Wahrheit präsentieren und nur einen Weg weisen.

So lässt er den bekannten griechischen Philosophen zuerst auf ungewohntem Terrain – einem Schlachtfeld – agieren und danach philosophieren – zur Abwechslung mit sich selbst, denn der Weg zur eigenen Wahrheit führt über das eigene Bewusstsein.

Eine gehörige Portion Humor ist dem Text beigemischt, vor allem im ersten, dem kriegerischen Teil, und genau dieser Humor persifliert hochgehaltene Werte von Ehre und Vaterland: Sokrates, aufgrund seiner Leibesfülle nicht eben das Sinnbild eines starken und tapferen Soldaten, nimmt an der Schlacht bei Delion teil und erweist sich im Angesicht des Feindes als wehleidiger Feigling, den ein Dorn im Fuß bereits zu einem dem Tod auf dem Schlachtfeld Geweihten werden lässt. Im letzten Moment, unter verdutzten feindlichen Blicken, brüllt der Überlebenswille des Sokrates den Feind in einen ersten Rückzug, und das Glück in Form berittener Mitstreiter tut ein übriges, den Krieg für Sokrates’ Mannen zu entscheiden.

Obgleich mit diesem Verlauf jedwede Kriegs- und Kampfesstrategie Lügen gestraft wird, kommt die heldenbedürftige Masse nicht umhin, die Aktion des Sokrates kritiklos als wohlüberlegte Heldentat auszulegen.

Dabei lässt bereits die Überschrift – Der verwundete Sokrates – die Zweideutigkeit des für eindeutig Gehaltenen erkennen: Sokrates, der große Philosoph, ist verwundet. Philosophie und Krieg stellen dabei einen ersten Widerspruch dar, steht Philosophie doch in allererster Linie auch für Pazifismus und damit jedem Militarismus diametral entgegen.

Der Leser ist verunsichert und stutzt, nicht ahnend, was ihm im Laufe des Textes noch zwischen den Zeilen begegnen wird.

Eine distanziert-parodisierende Erzählhaltung gibt den Blick frei auf den Soldaten Sokrates, der zunächst vermeintlich unvoreingenommen vorgestellt wird. Sokrates, der Philosoph, der Klügste der Griechen, der auch andere klug machen kann, denn er „konnte seine Freunde wohlgestalteter Gedanken entbinden“, die deren „eigene Kinder“ waren, nicht „Bastarde“ fremder Leute (oder Vordenker!). Unbestritten ist die Klugheit des Philosophen, doch bedeutet dies auch per se Tapferkeit des Soldaten? Ist Sokrates ein großer Mann auf dem Weg zum Helden oder ein Mensch, der Mensch ist und bleibt? Sokrates’ Tapferkeit wird in jedem Fall aber eine besondere sein, so verspricht der Text, doch die Ernüchterung folgt auf dem Fuße: der große Philosoph Sokrates kaut sich mit Zwiebeln Mut an! Der Leser ist schockiert, passen doch aus Aberglauben verspeiste Zwiebeln recht wenig zum Bild des großen Philosophen – doch genau dahinter steckt die Botschaft (die übrigens auch Herr Keuner verkündet): muss ein Bild dem Menschen ähneln oder ein Mensch dem Bild, das man sich von ihm gemacht hat?

Und so „trottet“ der arme Soldat von dannen, denn die Zwiebeln haben – wen wundert’s! – nicht gleich geholfen. Fast tut er einem Leid, der zwiebelkauende Anti-Held, und dies umso mehr, als er sich noch seiner Leibesfülle wegen, die offenbar hinter dem Schutzschild nicht genügend Platz findet, verspotten lassen muss. Doch auch hier lautet die Frage, die diesmal sogar Sokrates selbst stellt: Ist der Schild zu schmal für den Körper, oder ist der Körper zu breit für den Schild?

Mit diesen und weiteren philosophischen Betrachtungen über den Krieg und seine Hintergründe erreicht der Philosophen-Soldat schließlich das Schlachtfeld und damit auch den Feind. Angesichts der drohenden Kämpfe und Verluste ist nur allzu menschlich, Angst zu empfinden, Ohnmacht vielleicht, oder Wut. Anspannung und Erregung, Angst und der Mut der Verzweiflung stehen den Soldaten förmlich in die „herausgewälzten Augen“ geschrieben, ein Moment allerhöchster Erregung, die Bedrohung ist existenziell, der psychische Zusammenbruch deshalb nur allzu verständlich – ein Soldat ruft in seiner Verzweiflung gar „lallend die Götter an“; „Zu spät“, kommentiert Sokrates lapidar, ohne Mitgefühl und fast verachtend. So etwas kann ihm selbstverständlich nicht passieren. Auch nicht einen Augenblick später, als sich der Soldat angesichts der ersten fliegenden Eisenstangen, die sich als Wurfspeere entpuppen, nur noch sich selbst der allernächste ist und uns, der verwirrten Leserschaft, als Mensch in seiner nacktesten Form präsentiert wird, nämlich reduziert, in schonungslos offener Darstellung, auf den reinen Überlebenstrieb und die damit verbundene Denkweise: einzig wichtig ist sein Vorsprung vor dem Feind, und das Ausmaß seines Vorsprunges hängt davon ab, wie lange andere die Verfolgung durch den Feind herauszögern können. Die Strategie des Bauernopfers also? Hatte der Philosoph noch wenige Zeilen zuvor gerade die Strategie des Bauernopfers angeprangert, so bedient er sich nun zumindest der Hoffnung, genau dies möge zu seinem eigenen Vorteil geschehen. Doch es bleibt wenig Zeit, diesem Widerspruch auf den Grund zu gehen, denn nun kommt es zu der titelgebenden Verwundung des Soldaten, die diesem plötzlich „höllische Schmerzen“ bereitet, doch bald wird klar: Soldat Sokrates ist ein kläglicher, wehleidiger Feigling; seine Höllenschmerzen lassen sich auf einen im Fuß steckenden Dorn zurückführen, der sich allerdings nicht so leicht entfernen lässt, wie Sokrates mit „irren Augen“ feststellt. Seine „tränenden Augen“ kurz darauf lassen sich demgegenüber verstehen als eine Mischung aus Schmerz und Selbstmitleid, vielleicht auch als Tränen der Erleichterung ob des gefundenen Sitzplatzes und der nun durchaus noch bestehenden Überlebenschancen. Mit letzter Kraft (macht sich hier doch noch die Wirkung der Zwiebeln bemerkbar?), mit bereits eingetrübten Augen (Z.91) hat der Philosoph die rettende Idee – in höchstem Maße banalisiert und fast ad absurdum geführt durch die rhetorische Frage, ob denn ein Schwert auch als Messer zu benutzen sei... Der Text zeigt den wahren Soldaten Sokrates, den Menschen mit seinen Ängsten: „verzweifelnd hüpfend“, „umknackend“, zusammensinkend“, „auf dem Hintern sitzend“ und „hilflos blickend“

Mit dieser Wahrheit gilt es sich auseinanderzusetzen – der große Philosoph taugt überhaupt nicht zum klassischen Soldat im herkömmlichen Sinne, trotzdem kann er auf dem Schlachtfeld etwas bewirken, als er anfängt zu brüllen. Wie beim Schachspiel gilt auch im Kriege, dass eine gute Kriegsstrategie darin besteht, den Feind zu täuschen und zu überlisten. Und genau dies hat Sokrates getan – der Feind wird tatsächlich überlistet und das kriegsstrategische Ziel – der Sieg – ist damit erreicht. Und doch ist alles Farce, denn nicht kühle Berechnung stand hinter Sokrates’ Tat, sondern die schiere Verzweiflung eines gehunfähigen, angsterfüllten und übergewichtigen Amateursoldaten (der zufällig im zivilen Leben ein großer Philosoph ist) und der das große Glück hat, zur rechten Zeit berittene Kameraden neben sich auftauchen zu sehen. Der Sieg, das Ergebnis einer tapferen und strategisch ausgefeilten Kriegsführung, ist damit nichts weiter als die Summe aus Furcht und Glück; nachdem Furcht aber unberechenbar und Glück unkontrollierbar ist, ergibt sich der Sieg als Summe eher zufällig, und die vielgepriesenen Klischees wie Mut und Tapferkeit kommen in dieser zufälligen Summe nicht nur nicht mehr vor, sondern werden darüber hinaus durch dieses ebenso unerwartete und wie unspektakuläre Ende deutlich in Frage gestellt.

Sokrates selbst entlarvt den Krieg als „Bauernopfer“ im Kampf der Mächtigen um noch mehr Macht, in dem die Leidtragenden (die Soldaten) ihr Leben für fremde Interessen riskieren, oft unter dem abstrakten Deckmantel von Ehre und Vaterland, das es zu verteidigen gilt. Kriegsstrategien und all jene oft wohlklingenden Worte, die jedem Einzelnen auf dem großen Schachbrett der Schlachten eine wichtige Bedeutung zuweisen, werden als pure Heuchelei entlarvt, dienen sie doch lediglich dazu, die Haut der Oberen zu retten, die schließlich vom Krieg profitieren wollen, für die Durchsetzung dieses Zieles allerdings der anderen bedürfen. Daraus entsteht ein Spiel mit zwei gegensätzlichen Positionen: Der ‚menschliche Mensch’ (der einfache Soldat) hat Angst im Krieg, denn ihm droht der Verlust des eigenen Lebens; in seiner Verzweiflung flüchtet er sich oft in Aberglaube und Heldentum. Der ’unmenschliche Mensch“ (die Kriegsherren) schickt die Bauern voraus, den König (als Symbol für Kriegsherrentum und Machtgewinn) zu schützen und zu verteidigen – die Grundstrategie des Schachspiels.

Nun ist bereits dieser erste Teil des Textes eigentlich schon komplex genug, um sich mit den implizit und explizit aufgeworfenen Fragen zu beschäftigen. Doch der Text geht noch weiter und stellt neue philosophisch-ethische Ansprüche: Soll Sokrates erzählen, wie es wirklich war auf dem Schlachtfeld und damit das Bedürfnis der Menschen nach Helden enttäuschen? Oder soll er diesem Bedürfnis gerecht werden und sich als Helden feiern lassen, obgleich er selbst weiß, dass er kein solcher ist? Die Entscheidung bleibt letztendlich dem Leser überlassen – der Text macht zwar durch Sokrates’ Beichte am heimischen Herd den Weg frei für die Wahrheit, doch ob diese Wahrheit denn auch aus des Philosophen Hütte dringt, erfährt man zur Beunruhigung des eigenen Gewissens nicht.