Interpretation "Lenz" von Georg Büchner (Seite 3)

Worum geht es also? Um eine 'Pathographie', eine 'Schizophreniestudie', wie verschiedene Artikel (Rudolf Weichbrodt im Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, 1921 bzw. Gerhard Irle in seinem Buch Der psychiatrische Roman, 1965) behaupten? Dass Büchner, nicht zuletzt durch seine wissenschaftliche Begabung, sehr wohl in der Lage ist, genau zu beobachten und so durchaus eine exakte Beschreibung einer psychischen Störung geben kann, steht außer Zweifel. Aber Lenz lässt sich auf eine Fallstudie nicht reduzieren. Der Text gibt keine Information über die Vorgeschichte, sondern setzt unvermittelt ein (es ist müßig, über einen von Büchner möglicherweise geplanten 'Vorbericht' zu spekulieren), und bis auf die erwähnten Passagen, in denen Lenz Andeutungen über eine unglückliche Liebesbeziehung macht, bleibt die Vergangenheit völlig im Dunkeln. Auch schildert der Text keinerlei Entwicklung; zwar 'verschlimmert' sich Lenz’ Zustand, doch gibt es keine wirkliche Veränderung.

Aber Lenz findet aus eigener Kraft keinen Zugang mehr zur Realität. Und Oberlin kann ihm keine Hilfe sein, denn sein religiöses Verständnis der Welt kann Lenz nicht einmal mehr Trost bieten. "Oberlin sprach ihm von Gott" - aber Gott ist für Lenz eine abstrakte Kategorie, gerade seine Auflehnung gegen ihn drückt den Wunsch aus, ihn wieder greifbar zu machen ("Gott herbei reißen und zwischen seinen Wolken schleifen"), was jedoch nicht mehr möglich ist: "und der Himmel war ein dummes blaues Aug".

Mit dem Gegensatzpaar Oberlin/Lenz ist ein Generationenkonflikt beschrieben, der eine entscheidende geistesgeschichtliche Entwicklung in sich trägt: die Ablösung des christlichen Weltmodells durch ein emanzipiert-rationalistisches. Lenz kann die alten Deutungsmuster nicht mehr übernehmen, hat aber kein alternatives Sinngefüge entgegenzustellen. Die Welt wird zum unbegreiflichen und unverständlichen 'Hieroglyphen'.

Seiten