Interpretation "Woyzeck" von Georg Büchner (Seite 2)

Um nichts besser verhält sich der Hauptmann. Auch er kann als Repräsentant für die Unmenschlickeit der herrschenden Verhältnisse angesehen werden, denen Woyzeck aufgrund seiner Stellung immer wieder zum Opfer fällt. In seinem pseudo-moralischen Vortrag ("Er hat keine Moral! Moral, das ist wenn man moralisch ist, versteht Er") offenbart er eine – von Büchner mit bitterer Ironie gezeichnete – Mischung aus Borniertheit und Mangel an menschlicher Einfühlung, wie sie die Umwelt kennzeichnet, mit der Woyzeck permanent konfrontiert wird.

Auch der Tambourmajor beteiligt sich an Woyzecks Erniedrigung. Nicht nur durch die Tatsache, dass er, nicht zuletzt dank seiner Position, Woyzecks Geliebte verführt, was wiederum ein Licht auf deren soziale Abhängigkeit wirft; in der direkten Begegnung mit Woyzeck begleitet er die Brutalität seines Handelns mit einer dreifachen verbalen Attacke ("die Nas ins Arschloch prügeln"; "die Zung aus dem Hals herausziehe und sie um den Leib herumwickle"; "soviel Atem lassen als ein Altweiberfurz"), die deutlicher die völlige Missachtung des niedriger Gestellten nicht ausdrücken kann. Vor diesem Hintergrund erscheint die Tötung Maries mehr als Verzweiflungstat denn als durch reine Eifersucht motivierter Mord. Die Unüberwindlichkeit der gesellschaftlichen Determination treibt Woyzeck in die Enge; seine geistige Vereinsamung droht sich durch Maries mögliche Abwendung auf emotionaler Ebene fortzusetzen. Es ist aber gerade seine Bindung zu ihr und dem gemeinsamen Kind, die ihn seine jämmerliche Existenz ertragen lässt – so bedeutet ihr Treuebruch nicht nur eine Verletzung seines ohnehin so gut wie nicht mehr vorhandenen Selbstwertgefühls, sondern den endgültigen Verlust einer irgendwie mit Sinn erfüllten Lebensperspektive. Die physische Vernichtung Maries mag als paradoxe Reaktion erscheinen, sie korrespondiert aber mit der Kapitulation Woyzecks vor einer sinnlosen Welt. Degradiert zu einem Objekt des Befremdens, der Belustigung und der Missachtung, muss er sich schließlich gegen diese Welt zur Wehr setzen.

Dieses Erleben zeigt sich in seinen Wahnvorstellungen, den Anzeichen von Verfolgungswahn ("Es geht hinter mir, unter mir [...] hohl, hörst du? Alles hohl da unten. Die Freimaurer!") und den akustischen Halluzinationen ("Ha was, was sagt ihr? Lauter, lauter"). Für seine pathologischen Zustände gibt es in der Wirklichkeit keine psychiatrisch beschriebene Entsprechung. Im Verlauf des Fragments erscheint Woyzeck schließlich immer verwirrter, und es sind dann auch die Stimmen, die ihn zum Mord an Marie auffordern. In der Wahl des Opfers zeigt sich noch einmal Woyzecks Ohnmacht. Gegen die eigentlichen Verursacher seines Leids hat er keine Handhabe; er kann sein letztes Aufbäumen nur auf das schwächste Glied der feindlichen Außenwelt – eine Frau – richten und zerstört damit die einzige ihm verbliebene Möglichkeit menschlichen Kontakts (auch Othello tötet den einzigen Menschen, der ihn als seinesgleichen akzeptiert, hier darf eine echte Parallele gesehen werden).

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