Interpretation "Der Besuch der alten Dame" von Friedrich Dürrenmatt (Seite 2)

Dürrenmatts Theaterwelt ist grotesk übertrieben, im Rahmen der dargestellten Wirklichkeit ist das Geschehen aber vollkommen stimmig und nachvollziehbar. Das Verfahren ähnelt dem Theater Bertolt Brechts: Die Wirklichkeit wird überhöht und entfremdet, damit der Zuschauer um so wacher den Realitätsgehalt als Ganzes hinterfragt und das Gesehene auf Gemeinsamkeiten mit dem eigenen Alltag absucht. Claires makaberer Hofstaat, zu dem die kastrierten Zeugen von damals und sogar ein Sarg für Alfred Ill gehören, zeugt vom pechschwarzen Humor des Stückes. Angesichts der Hinrichtungsszene am Ende des Stückes bleibt dem Zuschauer das Lachen dann aber doch im Halse stecken.

Die böse Schlussironie des Stückes liegt in den zum Scheitern verurteilten Bemühungen sowohl Alfreds als auch Claires. Alfred hat Claire damals verstoßen, um die Tochter des Ladenbesitzers zu heiraten und sich einen kleinen Wohlstand im Städtchen zu sichern. Genau wegen dieser Tat aber kehren sich die von Claire manipulierten Bewohner Güllens nun gegen ihn. Claire ihrerseits steht am Ende des Stücks ebenfalls nur auf den ersten Blick als Siegerin da. Zwar hat sie ihre Rache an Alfred Ill bekommen, der Preis, den sie dafür zahlen muss, ist jedoch hoch. Nach ihren vielen Unfällen besteht sie fast ganz aus Prothesen; ihre menschliche Seite hat sie vollständig ihrem Rachedurst und Zynismus geopfert. Letztendlich ist sie keine strahlende Siegerin, sondern ein körperliches, seelisches und moralisches Wrack.

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