Interpretation "Aus dem Leben eines Taugenichts und Erzählungen" von Joseph von Eichendorff (Seite 3)

Der Taugenichts ist auch deshalb unangreifbar, weil er, obwohl er 'ich' sagt, keine Identität besitzt. Namenlos ist er in der Welt, definiert sich nicht aus sich selbst, sondern durch das, was mit ihm geschieht, ohne dabei im geringsten – dies ist nur scheinbar ein Paradoxon – willenloses Partikel zu sein. Er steht außerhalb der Gesetzmäßigkeiten zweckrationalen Handelns, und insofern sind die von ihm ausgehenden Impulse keine konturierten, planmäßigen Aktionen und Absichten. Wenn er handelt und spricht, ist es zuallererst durch seine Geige: auch dies ist eine Sprache vor der Sprache, ein Ausdrucksmittel, das unmittelbarer, ursprünglicher und der rationalen Kontrolle nicht unterworfen ist. Wie das Rauschen der Donau oder das Schallen des Abends erklingt dazu ein Lied, das auf den Horizont der Erfahrung, auf eine Ahnung verweist, die der Identität immer schon vorausgeht und spürbar wird, wenn die kurzlebigen, eigensüchtigen Bedürfnisse des Menschen verstummen.

"Rauscht die Erde wie in Träumen
Wunderbar mit allen Bäumen,
Was dem Herzen kaum bewußt,
Alte Zeiten, linde Trauer,
Und es schweifen leise Schauer
Wetterleuchtend durch die Brust."

Hier spricht nicht ein in seiner Ratio befangenes Subjekt, sondern die Poesie, die Sprache selbst. Poesie aber, so Eichendorff, gehe immer "auf nichts Geringeres, als auf das Ewige, das Unvergängliche und absolut Schöne, das wir hienieden beständig ersehnen und nirgends erblicken." Dieses Ewige aber sei "an sich undarstellbar und kann nur sinnbildlich, das ist in irdischer Verhüllung und durch diese gleichsam hindurchschimmernd, zur Erscheinung gebracht werden."

Falsch wäre es, dem Text eine eindimensionale, etwa politische, weltanschauliche oder poetologische Bedeutung zu unterstellen; der Taugenichts bildet ein komplexes Zeichengefüge, das nicht der linearen Repräsentation verpflichtet ist. Vielmehr ist er selbst ebenso wie sein Titelheld in endloser Bewegung, in die der Leser, sofern er dazu bereit ist, miteinbezogen wird – hin zu dem fernen Horizont, dem nie zu erreichenden Ziel, das wie die untergegangene Sonne "nur noch wie ein rötlicher Duft über dem warmen, verschallenden Abend" schimmert.

Insofern kann Aus dem Leben eines Taugenichts als repräsentatives Werk der Romantik angesehen werden – der Romantik als einer der großen Bewegungen gegen die zunehmende Rationalisierung, Funktionalisierung und Entzauberung der Welt. Das Marmorbild ist in noch stärkerem Maße ein Musterbeispiel für die literarische Ausgestaltung dieses Lebens- und Weltgefühls. Hier erweist sich die Realität als doppelbödig: das Phantastische verbirgt sich hinter den Erscheinungen, die dämonischen Seiten der Liebe und der Kunst treten geheimnisvoll ins Leben; Wirklichkeit, Traum, Halluzination und Übernatürliches vermischen sich zu einem unentwirrbaren, weil zusammengehörigen Ganzen. Die schließliche Ernüchterung erfolgt nur auf der Oberfläche der Erzählstruktur; die vorangegangenen Erfahrungen Florios in einer Sphäre des Dämonischen behalten ihre Wirkung.

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