Interpretation: "Der Stechlin" von Theodor Fontane (Seite 3)

Dubslavs Schwester Adelheid verkörpert das genaue Gegenteil: Starrsinnig und ohne jeden Zweifel an der eigenen Position hält sie an ihren Überzeugungen fest und versucht, sie anderen aufzuzwingen. Dass Melusine und Armgard eine Schweizerin zur Mutter haben und in England aufgewachsen sind, ist für sie Grund genug, ihrem Neffen dringend von einer ehelichen Verbindung mit einer von ihnen abzuraten. Für Adelheid (ein sprechender Name!) bringt nur der märkische Adel standesgemäße Heiratskandidatinnen hervor, und darunter auch nur die wirklich alten, religiösen und sittenstrengen Familien. Am Ende verwendet Dubslav die Farbe Rot, die er selbst zu Beginn des Romans nicht leiden mochte, als Mittel, um die Schwester aus seinem Schloss zu vertreiben. Adelheid hasst die roten Strümpfe, die das Kind Agnes trägt, da sie in ihren Augen ein Zeichen sind: "Sie sind ein Zeichen von Ungehörigkeit und Verkehrtheit. Und ob du nun lachen magst oder nicht – denn an einem Strohhalm sieht man eben am besten, woher der Wind weht –, sie sind ein Zeichen davon, daß alle Vernunft aus der Welt ist und alle gesellschaftliche Scheidung immer mehr aufhört."

Dass der alte Stechlin ausgerechnet dieses Kind kommen lässt, als er spürt, dass es mit ihm zu Ende geht, hat eine Bedeutung, die über die rein strategische Absicht, Adelheid zu vertreiben, hinausgeht. Es ist ein uneheliches Kind aus der Unterschicht der Gesellschaft, und damit sicherlich kein Umgang für einen standesbewussten Adligen, der auf sich hält. Kurz vor seinem Tod scheint der alte Stechlin also die gesellschaftlichen Schranken endgültig überwunden zu haben; das Zusammensein des adligen Alten, dessen Zeit vorbei ist, und des rotbestrumpften Unterschichtkindes, dessen Zeit noch kommen wird, wird zum Sinnbild des Wandels der Gesellschaft.

Pastor Lorenzen spricht am deutlichsten aus, worum es bei diesem Wandel geht: "Der Hauptgegensatz alles Modernen gegen das Alte besteht darin, daß die Menschen nicht mehr durch ihre Geburt auf den von ihnen einzunehmenden Platz gestellt sind." Die großen Helden der preußischen Geschichte sind seiner Ansicht nach durch Erfinder und Entdecker abgelöst worden, und jede Propagierung des Heldischen empfindet er als Versuch, etwas Abgestorbenes künstlich wiederzubeleben. Dabei gilt den alten Familien durchaus seine Sympathie, ja er spricht sogar davon, sie zu lieben; nur glaubt er, dass ihre Zeit vorbei ist: "Eine neue Zeit bricht an. Ich glaube, eine bessere und eine glücklichere. Aber wenn auch nicht eine glücklichere, so doch mindestens eine Zeit mit mehr Sauerstoff in der Luft, eine Zeit, in der wir besser atmen können."

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