Interpretation "Lyrik in Auswahl" von Theodor Fontane

Theodor Fontanes lyrisches Werk ist in seiner Frühphase eng mit dem 'Tunnel über der Spree' verbunden, jener Dichtergesellschaft, die ihn geprägt und so manche Türen geöffnet hat. Früh von England begeistert und politisch links stehend, interessiert sich der junge Fontane für die Lieder der revolutionären englischen Dichter, die in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts die miserable Situation der besitzlosen Unterschicht anprangern. Unsere Auswahl bringt als Beispiel dieser Schaffensphase das Gedicht Der Trinker, die Nachdichtung eines Textes des englischen Dichters Robert Nicoll (1814 – 1837). In seiner Rechtfertigung des Alkoholrausches, ohne den die Wirklichkeit nicht auszuhalten sei, enthält dieses Gedicht ein bemerkenswertes Aggressionspotential gegen die bürgerliche Gesellschaft und ihre Moral. Nicht der Trinker wird moralisch verurteilt, sondern die Gesellschaft, die ihm außerhalb der Illusionen des Rausches keine Möglichkeit zum Glück gewährt.

Mit dem Gedicht Der Tower-Brand gelingt Fontane am 15. Dezember 1844 der erste größere Durchbruch im Tunnel. Tatsächlich hatte sich einige Jahre zuvor ein Brand im Londoner Tower ereignet, der hier als Racheakt der im Tower hingerichteten unschuldigen Opfer dargestellt wird. Die Parteinahme für die Opfer zynischer Machtpolitik hält sich jedoch in engen Grenzen; es steht mehr der Schauereffekt im Vordergrund als die politisch-moralische Botschaft.

Der alte Dessauer entstammt einem 1850 erschienenen Gedichtband mit dem vielsagenden Titel Männer und Helden. Fontane hat hier die großen Gestalten der preußischen Geschichte als Thema seiner Balladen entdeckt und mit diesen Balladen einigen Erfolg geerntet. Fontane empfand die Ideologie, die diese Gedichte transportieren, wohl nicht einmal als Gegensatz zu seinen früheren demokratischen Anschauungen – seine politische Haltung ist gerade in ihrer Zwiespältigkeit typisch für das gebildete preußische Bürgertum seiner Zeit. Als Begründung für die Heldenverehrung, die das Gedicht betreibt, wird ins Feld geführt, dass der alte Dessauer "nie mit Worten [...] seine Feinde fraß", woraus eine erschreckende Verachtung der verbalen Auseinandersetzung zugunsten der kriegerischen Heldentat spricht, die hier als preußische Tugend gefeiert wird.

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