Interpretation "Schach von Wuthenow" von Theodor Fontane (Seite 2)

Fontane beschränkt sich nicht darauf, den Zeitpunkt der Handlung in einer bestimmten historischen Situation anzusetzen, er lässt die historische Situation in einer Vielzahl von Figuren lebendig werden, die der zeitgenössische Leser alle mehr oder weniger gut aus der Geschichte kennt. So hat nicht nur der Militärschriftsteller Bülow tatsächlich zu dieser Zeit gelebt, auch der Verleger Sander ist eine historische Persönlichkeit (wenn er auch nicht der Verleger der Schriften des historischen Bülow war). Auch Alvensleben, Nostiz und Zieten sind historische Figuren, das Drama Die Weihe der Kraft von Zacharias Werner wird tatsächlich im Jahr 1806 aufgeführt; August Wilhelm Iffland ist einer der berühmtesten Schauspieler dieser Zeit, ebenso gibt es den Kapellmeister und Klaviervirtuosen Dussek. Auch die Großen der Geschichte haben ihre Auftritte in der Erzählung: Prinz Louis Ferdinand von Preußen, der vier Tage vor der Schlacht bei Jena und Auerstedt im Gefecht von Saalfeld fällt, die Königin Luise und natürlich König Friedrich Wilhelm III., der der Überlieferung zufolge tatsächlich mit seinen Untergebenen nur im Infinitiv spricht, wie er es auch mit Schach tut.

Dem Regiment Gensdarmes gehört auch der Titelheld der Erzählung an, und er nimmt innerhalb dieses Regiments eine Sonderstellung ein: Er ist, wie sein Kamerad Alvensleben formuliert, "einer unsrer Besten". Schach unterscheidet sich von den meisten seiner Regimentskameraden durch seine unbedingte Ernsthaftigkeit und Loyalität. Es ist eine Loyalität aus Prinzip, Schach ist seinem ganzen Selbstverständnis nach ein Vertreter des alten, friderizianischen Preußen. Dass er nie an der militärischen Stärke Preußens zweifelt, sondern – wenige Monate vor dem Untergang – immer noch glaubt, "daß die Welt nicht sichrer auf den Schultern des Atlas ruht als Preußen auf den Schultern seiner Armee", ist keine in der Realität begründete Überzeugung, sondern ein Ausdruck eben jener unbedingten Loyalität, die jeglichen Zweifel an der preußischen Überlegenheit schlicht verbietet. All das zeichnet Schach keineswegs als Mann von großen intellektuellen Fähigkeiten aus; er ist, wie Victoire sagt, ein Mann, der nur über eine "mittlere Gescheitheit" verfügt.

Bülow, der gleich im ersten Kapitel als Gegenspieler Schachs eingeführt wird, ist ihm zweifellos geistig weit überlegen. Bülow gehört zur Gruppe der 'Frondeurs', er opponiert prinzipiell gegen alle preußischen Glaubensartikel und ist überzeugt, dass Preußen gegen das napoleonische Frankreich nicht die geringste Chance hat. Er sieht nicht nur Staat und Militär, sondern auch den Protestantismus im Verfall begriffen. Seine Kritik basiert dabei auf einer reinen Fortschritts-Ideologie: Er sieht überall Unnatur und Künstlichkeit, und alle künstlichen Größen sind seiner Überzeugung nach zum Untergang verurteilt, weil es ihnen an Kraft fehlt.

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