Interpretation "Die Leiden des jungen Werthers" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 2)

Die gewählte Form der aneinandergereihten Briefe Werthers (genauer: Briefauszüge, denn es fehlen Anrede, einleitende Passagen, oft der Abschluss und zuweilen auch der Zusammenhang, so wird beispielsweise im Brief vom 19. April 1772 explizit auf eine Geldbitte hingewiesen, die vorher nicht aufgetaucht ist) an seinen Freund Wilhelm (mit zwei eingestreuten Notizen oder Brieffragmenten an Lotte am 26. Juli 1771 und 20. Januar 1772) erzeugt eine tagebuchartige Unmittelbarkeit, die durch das sprunghafte Vorgehen (unregelmäßige Zeitabstände, stets neu einsetzende Gedankengänge) verstärkt wird.

Durch die stilistischen Schwankungen zwischen begeisterten, jedoch klar ausformulierten Betrachtungen, knappen, nur das Nötigste enthaltenden Berichten und unvollständigen, von Ausrufen unterbrochenen, nicht mehr Aussprechbares andeutenden Sätzen wird der Text lebendig und, vor allem, in hohem Maße authentisch. Als Werthers Verfassung sich dem Tiefpunkt nähert, schaltet sich der fiktive Herausgeber ein und bettet die nur noch spärlichen schriftlichen Aufzeichnungen des Helden in die eigene, mitfühlende Nacherzählung der Geschehnisse ein. Dies ist nicht nur ein Trick, um dem Problem einer – kaum möglichen – Steigerung der stark affektgeladenen Briefe zu entgehen, sondern entspricht der Erfahrung, dass Leid (aber auch Freude) im Übermaß eine geistige Erschütterung hervorruft, die eine wie auch immer strukturierte Beschreibung des inneren Befindens nicht mehr erlaubt.

Die Echtheit beruht aber keineswegs allein auf dem geschickten Einsatz formaler Mittel, diese sind nur das (geradezu ideale) Medium, um die mit erstaunlicher Genauigkeit beobachteten seelischen Vorgänge darzustellen. Wir erleben Werther als äußerst sensiblen, allen Eindrücken offenen Menschen, dessen extreme Veranlagung in der Konfrontation mit den herrschenden Moralvorstellungen und der spezifischen, für ihn fatalen Konstellation der Personen und Umstände zur psychischen und schließlich auch physischen Vernichtung führt.

Was ist los mit Werther? Er ist unglücklich verliebt, aber das macht das Seelendrama nicht aus. Dass Lotte sich von ihm angezogen fühlt und ihm – oft von seiner Einbildungskraft überbewertete – Zeichen ihrer Zuneigung gibt, führt dazu, seine Fixierung zu verstärken, vielleicht sie überhaupt zu entwickeln. "Nein, ich betrüge mich nicht! Ich lese in ihren schwarzen Augen wahre Teilnehmung an mir und meinem Schicksale. Ja ich fühle, und darin darf ich meinem Herzen trauen, daß sie – O darf ich, kann ich den Himmel in diesen Worten aussprechen? – daß sie mich liebt." Trotzdem erklärt auch dies nicht Werthers Geschichte, ebensowenig wie der an der Unerträglichkeit der höfischen Gesellschaft gescheiterte Versuch der Loslösung.

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