Interpretation "Egmont" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 6)

"Junger Freund, den ich durch ein sonderbares Schicksal zugleich gewinne und verliere [...]; du verlierst mich nicht. [...] Die Menschen sind nicht nur zusammen, wenn sie beisammen sind; auch der Entfernte, der Abgeschiedene lebt uns. Ich lebe dir und habe mir genug gelebt. Eines jeden Tages hab ich mich gefreut [...]. Ich höre auf zu leben; aber ich habe gelebt. So leb auch du mein Freund, gern und mit Lust, und scheue den Tod nicht." (V, Gefängnis)

In diesen Worten angesichts des Todes ist es das Leben als solches, die Freude am Dasein schlechthin, das ohne große Taten oder Gedanken sich selbst rechtfertigt. Egmonts Weigerung, über Vergangenheit und Zukunft nachzudenken, und seine Haltung, weitgehend unreflektiert in der Gegenwart einfach dazusein, erhält somit Vorbildcharakter: "So leb auch du mein Freund."

Egmont stirbt, wie er gelebt hat, im Einklang mit dem Schicksal. Und von dieser Perspektive her erscheint auch der Selbstmord Klärchens als voreilige Fehlhandlung. Ohne von ihrem Tod zu wissen, empfiehlt Egmont die Geliebte seinem letzten Freund Ferdinand. Dass Klärchen ihm dann im Traum als Allegorie der Freiheit erscheint, "ihm andeutet, daß sein Tod den Provinzen die Freiheit verschaffen werde", und ihm den Lorbeerkranz als Zeichen des Sieges überreicht, verstärkt nur die ganz untragische Harmonie seines Endes: "Süßer Schlaf! Du kommst wie reines Glück ungebeten [...], ungehindert fließt der Kreis innerer Harmonien, und eingehüllt in gefälligen Wahnsinn, versinken wir und hören auf zu sein." (V, Gefängnis).

So ist Egmont im Grunde nur formal eine Tragödie – insofern als der Held und seine Geliebte am Ende sterben. Ansonsten fehlt jedes tragische Element: Da Egmont eine mit sich selbst und ihrem Schicksal identische Figur ist, gibt es gar keinen echten tragischen Konflikt. In dieser harmonischen Lösung kommt der klassische Anteil des Dramas – das in gestalterischer Hinsicht, z. B. in den Volksszenen, noch manches Sturm-und-Drang-Element aufweist – voll zur Geltung. In Egmonts expliziter Neigung zur Konfliktverdrängung zeigt sich gleichzeitig aber auch die Problematik und Fragwürdigkeit des klassischen Menschenbildes.

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