Interpretation "Faust I und II" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 4)

Die Verjüngung Fausts jedenfalls – sei sie nun realiter erfolgt oder der Zaubertrank nur als ein libido- und potenzsteigerndes Mittel zu verstehen – führt zunächst dazu, dass er "Helenen in jedem Weibe" sieht. Helena ist hier nur Metapher für den Inbegriff der erotisch reizvollen Frau; dass Helenas Schönheit im Faust nie anders gesehen wird (und in keinem Fall im Kantschen Sinne des "interesselosen Wohlgefallens"), zeigt seine durch die Geburt Euphorions bezeugte geschlechtliche Vereinigung mit ihr im zweiten Teil. Doch dazu später.

Die sogenannte Gretchen-Tragödie folgt daraus zwangsläufig. Faust projiziert – wie es unromatischer und realistischer nicht geht – seine neugewonnene Libido auf das nächstbeste Mädchen, das er auf der Straße trifft. Das angeblich so unschuldige Kind läßt sich vom Schmuck, den Mephisto herbeischafft, schlicht und einfach kaufen: "Nach Golde drängt, / Am Golde hängt / Doch alles! Ach, wir Armen!" Sie "sitzt nun unruhvoll, / Weiß weder, was sie will noch soll, / Denkt ans Geschmeide Tag und Nacht, / Noch mehr an den, ders ihr gebracht."

Unschuld im sexualmoralischen Sinne hält sich nur so lange, bis sich eine geeignete Gelegenheit findet, sie aufzugeben. Freilich nennt sie es Liebe, und selbst Faust glaubt an sein vermeintlich reines Gefühl ("Ich bin ihr nah, und wär ich noch so fern, / Ich kann sie nie vergessen, nie verlieren").

Dass das arme Gretchen, das sich nicht anders verhält als alle Mädchen in ihrer Situation sich verhalten hätten, dann ihr und Fausts Kind töten muss und dafür zur Rechenschaft gezogen wird, ist der lustfeindlichen bürgerlich-christlichen Moral zuzuschreiben, die das Triebhafte als lebensbestimmendes Element nicht zu akzeptieren bereit ist. So ist es nicht die individuelle Schuld Fausts, Gretchen ins Unglück gestoßen zu haben, sondern der Fluch, der nach christlichem Verständnis auf dem Menschengeschlecht seit dem Sündenfall lastet. "Eritis sicut Deus, scientes bonum et malum", schreibt Mephisto ins Stammbuch des Schülers. Die Erkenntnis des Guten und des Bösen, die mit dem biblischen Sündenfall einhergeht, schlägt sich zu allererst in der Sexualmoral nieder. "Und sie erkannten, daß sie nackt waren." So hat letztlich Mephistos Muhme, die Schlange, eine Polarität herbeigeführt, an der die Menschheit ewig leiden wird: "Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust."

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