Interpretation "Götz von Berlichingen" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 2)

Andererseits ist eine Identifikation des Bürgertums, das zu dieser Zeit der absolutistischen Hofwelt entgegenstrebt, mit einer Figur wie Götz nicht ohne weiteres möglich: Sowohl dem wohlhabenden Handelsbürger wie der Schicht des aufkommenden Bildungsbürgertums muss ein solcher Charakter Schwierigkeiten bereiten: Er ist einerseits ein Vertreter der Raubritter, die "Kaufleute fangen und Fuhren wegnehmen" und damit sogar die Sympathie des Kaisers besitzen, der auf Beschwerden von Nürnberger Kaufleuten nur ärgerlich versetzt: "Wie geht's zu! Wenn ein Kaufmann einen Pfeffersack verliert, soll man das ganze Reich aufmahnen." Und in Götz' Dialog mit seinem Sohn Karl wird seine Einstellung zur sogenannten Bildung ganz deutlich:

"KARL: Ich weiß noch was.
GÖTZ: Was wird das sein?
KARL: Jagsthausen ist ein Dorf und Schloß an der Jagst, gehört seit zweihundert Jahren den Herrn von Berlichingen erb- und eigentümlich zu.
GÖTZ: Kennst du den Herrn von Berlichingen?
KARL (sieht ihn starr an)
GÖTZ: Er kennt wohl vor lauter Gelehrsamkeit seinen Vater nicht. – Wem gehört Jagsthausen? KARL: Jagsthausen ist ein Dorf und Schloß an der Jagst.
GÖTZ: Das frag ich nicht. – Ich kannte alle Pfade, Wege und Furten, eh ich wußte, wie Fluß, Dorf und Burg hieß."

Der Gelehrsamkeit, wie sie dem von der Aufklärung herkommenden Bildungsbürger als Surrogat für den mangelnden gesellschaftlichen und politischen Einfluß zur Verfügung steht, wird von Götz als Mittel der Entfremdung des Menschen von den eigenen Wurzeln enthüllt.

Was damit gesagt sein soll: Die politische Stoßrichtung gegen die Adelsherrschaft geht – wie immer im Sturm und Drang – gleichzeitig einher mit einer vehementen Infragestellung auch der bürgerlichen Werte. Es ist deshalb zu bezweifeln, ob "Götz die literarische Identifikationsfigur" darstellt, "in der das deutsche Bürgertum die eigenen politischen Wünsche und auch Handlungsimpulse sehen kann." (Jeßing 1995, S. 55) Der Begriff des deutschen Bürgertums erscheint jedenfalls zu pauschal. Man wird differenzierter sagen müssen: Eine bestimmte Altersgruppe, eine bestimmte Generation erkennt sich und ihr diffuses Gefühl der – nicht nur politischen – Unfreiheit in diesem Drama wieder.

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