Interpretation "Iphigenie auf Tauris" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 4)

Dem ebenso utopischen wie zeitlosen Charakter des Stücks entspricht der Rückgriff auf den antiken Stoff. Der klassischen Auffassung erscheinen die alten Griechen als Verkörperung eines in der Harmonie von Idee und Wirklichkeit vorbildlichen Menschentums. Dieses Griechenbild geht auf Johann Joachim Winckelmanns kunsttheoretisches Werk Gedanken über die Nachahmung griechischer Werke in der Malerei und Bildhauerkunst aus dem Jahr 1755 zurück. Sein Diktum von "edler Einfalt und stiller Größe" ist seither ein bekanntes Schlagwort. Winckelmanns neue Sicht der Antike zielt schon auf die Harmonie von innerer (ethischer) und äußerer (ästhetischer) Schönheit, von Geist und Körper, auf eine Synthese also der im christlich geprägten Abendland jahrhundertelang als unvereinbar geltenden Gegensätze. Dass auch diese Vorstellung von der Antike auf einem grandiosen Missverständnis beruht, zeigen erst Jakob Burckhardt und dann vor allem Friedrich Nietzsche. Ob deren pessimistisch-tragisches Antikebild allerdings 'wahrer' ist als das harmonisch-heitere Winckelmanns und der Klassik, sei dahingestellt.

Insgesamt hat diese formale und inhaltliche Abgehobenheit von der Realität der Rezeption der Weimarer Klassik – und besonders des Dramas Iphigenie als Prototyp dieser Richtung, vor allem in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhundert, als Erbauungsliteratur für Mußestunden Vorschub geleistet. Sie scheint den eskapistischen Kunstbegriff des Bürgers zu bedienen, der das Wahre-Gute-Schöne zur Erholung am Feierabend pflegt. Dass hier in einem gleichsam hermetischen Kunstraum ein Modell für höheres Menschentum geschaffen, und zwar nicht ausschließlich zur Erbauung, sondern durchaus auch zur Nachahmung empfohlen wird, ist offenbar nicht verstanden worden. Denn dieses Bürgertum – den Goethekopf aus Gips im Salon – hat sich in zwei Weltkriegen mit Begeisterung Mord und Totschlag hingegeben und damit bewiesen, dass es von seiner hochgelobten Klassik nichts begriffen hat.

Wenn Gerhart Hauptmann in der während des Zweiten Weltkrieges entstandenen Atriden-Tetralogie noch einmal Iphigenies Familiengeschichte aufleben lässt, hier aber mit dem Walten archaisch-chthonischer Mächte das tragische Element in den Vordergrund rückt, so nimmt er – angesichts des Geisteszustands der angeblich zivilisierten Welt in den 40er Jahren dieses Jahrhunderts nur konsequent – Goethes Optimismus radikal zurück. Wie hinter Goethe Winckelmann mit seinem fast heiteren Bild der Griechen steht, so kommt Hauptmann vom tragisch-pessimistischen Antikenbild Friedrich Nietzsches her. Doch sind beide so divergent erscheinenden Auffassungen von der Antike nur Projektionen je verschiedener Realisierungsmöglichkeiten des Menschlichen. Welche sich in der Welt letztlich durchsetzen wird, muss vorerst offen bleiben.

Seiten