Interpretation "Torquato Tasso" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 3)

Die Funktion, die dem Dichter hier von der Prinzessin zuerkannt wird, ist die des abhängigen Hofdichters, der seine Kunst zum Ruhme des Staates, der ihn beschützt, einzusetzen hat. Es ist also eine hochgradig gesellschaftlich funktionalisierte Kunst, die er zu vertreten hat – und dieser Unfreiheit ist sich Tasso bewusst. Aus diesem Bewusstsein seiner Unfreiheit als Künstler resultiert letztlich seine psychische Krise. Nur so wird die auf den ersten Blick unverständliche 'Undankbarkeit' Tassos begreiflich, wenn er den Fürsten schließlich als Tyrannen bezeichnet, der ihn, "den Sklaven, wohl gekettet" und ihm "mein einzig Eigentum, mir mein Gedicht / mit glatten Worten ab[gelockt]" hat. (V, 5)

Tassos Gefühl seines Unwerts (II, I) ist somit berechtigter, als es zunächst den Anschein hat. Auch seine Wertschätzung durch die Prinzessin gilt ja kaum dem Menschen (und schon gar nicht dem Mann), sondern dem Dichter als Funktionsträger zur Verherrlichung des Weiblichen. Und spielt denn Menschliches in die "Gunst der Frauen" (III, 4) hinein, wie es bei Leonore der Fall ist, so ist es wiederum ein Defizit, das den lebensuntüchtigen Dichter zum Gegenstand der weiblichen Fürsorge macht: "Ihm fehlt's an tausend Kleinigkeiten, die / Zu schaffen eine Frau sich gern bemüht. [...] So [...] / Hat man für ihn das ganze Jahr zu sorgen." (III, 4)

Doch ist Tasso eben nicht der Mann, der – wie Antonio eifersüchtig glaubt – es genießt, "Den Knaben noch als Mann zu spielen, der / Sich seiner holden Schwäche rühmen darf [...]" und "dem man seine Mängel / Zur Tugend rechnet" (III, 4). Vielmehr leidet er unter dieser Rolle, in die er nolens volens gedrängt wurde. Sein Argwohn, sein Misstrauen (I, 2), die Tassos Charakterisierung von Anfang an leitmotivisch prägen und schließlich in einer Art Verfolgungswahn mit Verschwörungstheorien gipfeln, sind psychologisch nachvollziehbar: Es ist die Unsicherheit des sich gegenüber den gesellschaftlichen Normen als minderwertig empfindenden Individuums, das in die Kunst flieht, um dort seine Defizite zu kompensieren.

So gesehen stellt Goethe im Tasso eine Grundproblematik des modernen Künstlertums zur Diskussion. Während die Hofgesellschaft den Künstler im herkömmlichen Sinne als Repräsentationsorgan des Hofes betrachtet und benutzt, haben wir in Tasso den Typus des modernen Künstlers, der sich gesellschaftlicher Bindung zu entziehen sucht, der aber gleichzeitig sein Künstlertum als Kompensation eines psychisch-sozialen Mangels betreibt. Die Hybris, die andererseits aus einer solchen 'Asozialität' in der Selbstüberschätzung erwachsen kann, kommt gültig in den zum geflügelten Wort geronnenen Versen zum Ausdruck: "Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt,/gab mir ein Gott, zu sagen, wie ich leide." (V, 5)

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