Interpretation "Torquato Tasso" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 4)

Der Künstler wird geradezu in Opposition zum Menschen gesetzt: Nietzsches Übermensch in seiner ganzen Problematik ist hier bereits präfiguriert. In dieser radikalen Überbetonung des Subjekts weisen Tasso als Figur und Tasso als Drama bereits über Klassik und Klassizismus hinaus. Zwar ist der Aufbau des Stücks konsequent klassizistisch: Die drei Einheiten und die Ständeklausel sind eingehalten, die Sprache ist in den strengen Blankvers gesetzt. Doch "Tassos Programm einer radikal subjektiven Kunst, deren Referenz einzig das Individuum und seine Leiden sei, ist [...] auch ein Programm gegen die klassizistische Kunst. Das letzte der italienischen Dramen Goethes artikuliert also, ohne formal die Grenzen des Klassischen zu sprengen, ein ganz unklassizistisches Kunstkonzept." (Jeßing)
In der Übertragung der Weimarer Verhältnisse auf den Renaissance-Hof reflektiert es gleichzeitig das Verhältnis von Literatur und Gesellschaft und kommt dabei zu dem Ergebnis, dass die klassische Idee einer Einheit von Tat und Geist, von gesellschaftlichem Wirken und subjektivem Künstlertum sich letztlich als undurchführbar erweist. Denn wenn auch die klassischen Einheiten des Dramas eingehalten werden – die Einheit der Person zerbricht in zwei je defizitäre Perönlichkeiten, das Individuum – dessen Anspruch auf Unteilbarkeit ja schon im Begriff steckt – erscheint als ein Geteiltes: "Er besitzt", sagt Tasso über Antonio, "Ich mag wohl sagen, alles, was mir fehlt./Doch – haben alle Götter sich versammelt,/Geschenke seiner Wiege darzubringen:/Die Grazien sind leider ausgeblieben." (II, 1)

Leonore sieht die Paradoxie eines geteilten Individuums ganz deutlich: "Zwei Männer sind’s,/ ich hab es lang gefühlt,/Die darum Feinde sind, weil die Natur/Nicht einen Mann aus ihnen beiden formte." (III, 2)

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