Interpretation "Wilhelm Meisters Lehrjahre" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 3)

Zumal die Theaterdirektoren Melina und Serlo nach wie vor ausschließlich die Finanzen im Auge haben: "Melina scherzte nicht ganz fein über Wilhelms pedantische Ideale dieser Art, über die Anmaßung, das Publikum zu bilden, statt sich von ihm bilden zu lassen, und beide vereinigten sich mit großer Überzeugung, daß man nur Geld einnehmen, reich werden oder sich lustig machen solle, und verbargen sich kaum, daß sie nur jener Personen loszusein wünschten, die ihrem Plane im Wege standen."

So wendet sich Wilhelm letztendlich enttäuscht vom Theater ab; seine theatralische Sendung (so der Titel der Urfassung des Romans) darf als gescheitert gelten. Seine Gesellschaft wechselt nun völlig: "Wo ist denn Ihre Gesellschaft hingekommen? Sind Sie noch lange bei ihr geblieben?""Länger als billig: denn leider wenn ich an jene Zeit zurückdenke, die ich mit ihr zugebracht habe, so glaube ich in ein unendliches Leere zu sehen; es ist mir nichts davon übriggeblieben." Doch hier irrt Wilhelm. Seine bisherigen Erlebnisse waren notwendige Stationen in seinem Bildungsprozeß: "alles, was uns begegnet, läßt Spuren zurück, alles trägt unmerklich zu unserer Bildung bei."

Zumal das Theater im Sinne des alten Topos vom Welttheater – "Wissen Sie denn, mein Freund, [...] daß Sie nicht das Theater, sondern die Welt beschrieben haben [...]?" – stellvertretende Funktion besitzt, gleichsam ein Übungsgelände zum Erwachsenwerden darstellt, in dem begangene Irrtümer nicht gleich zur Katastrophe führen – eben weil es sich um eine Welt des Scheins handelt.

So ist Wilhem Meisters Lehrjahre ganz zweifellos ein Bildungsroman, ja der Prototyp des Bildungsromans überhaupt; Bildung hier verstanden im umfassenden Sinne einer Formung der Persönlichkeit eines Individuums durch innere und äußere Kräfte. Im Gegensatz zur Erziehung, an der meist nur ein oder ein paar wenige Lehrer wirken, und zur Entwicklung, bei der die Ausformung der individuellen Anlagen eines Individuums (oft im Widerstad gegen seine Umgebung) im Vordergrund steht, ist an der so verstandenen Bildung ganz wesentlich die Gesellschaft beteiligt. Deshalb ist Wilhelm Meister notwendigerweise gleichzeitig auch ein Gesellschaftsroman, in dem soziale Verhaltensweisen in allen möglichen Schattierungen dargestellt werden.

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