Interpretation "Wilhelm Meisters Lehrjahre" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 5)

So sind diese beiden Figuren, die Wilhelm trabantenartig bis fast zum Ende begleiten, bei all ihrer Faszination zum Untergang verurteilte Gegen-Modelle zum 'gesunden' Sozialverhalten.

Über den Schein zur Wirklichkeit führt der Umweg Wilhelm Meisters. Dass dieser Umweg letztlich aber notwendig ist zur vollen Ausbildung der Persönlichkeit, zeigt Wilhelms letzte Begegnung mit seinem Jugendfreund Werner: Während Werner, ein von Anfang an dem Wirklichen verhafteter, vernünftig und ökonomisch denkender Mann, am Ende "eher zurück als vorwärts gegangen" zu sein scheint und als arbeitsamer Hypochondrist endet, ist Wilhelm zuletzt "größer, stärker, gerader, in seinem Wesen gebildeter und in seinem Betragen angenehmer geworden." Allerdings darf nicht vergessen werden, dass das harmonische Ende des Romans wiederum nur eine Station im Leben Wilhelms darstellt. Er ist erst 'Geselle' geworden; zur Lebensmeisterschaft bedarf es noch der Wanderjahre. Doch das ist im wahrsten Sinne des Wortes eine andere Geschichte.

 

Trotz der im Grunde anti-romantischen Tendenz gilt Wilhelm Meister auch und gerade für die junge Generation der Romantiker als Urbild des Romans überhaupt. Das liegt wohl weniger an seiner letztendlichen Aussage als am Thema, an Motiven und Figuren. Kunst und Künstlerschaft in ihrem antibürgerlichen Impetus, dunkle Sehnsucht nach Unaussprechlichem (Mignon), die Ungebundenheit Wilhelms in seiner Theaterphase und damit zusamenhängend das Reise-Motiv, Wilhelms Suche nach der nur einmal erblickten Amazone, die schicksalhaften Verstrickungen, mysteriösen Machenschaften der Geheimgesellschaft, überhaupt das 'Undurchsichtige', letztlich nicht restlos Aufklärbare in der Welt, das alles taucht in der einen oder anderen Form wieder auf in den Romanen der Romantiker. Dem entspricht eine weitgehend lockere Form, die offen ist für lyrische Einlagen, selbständige, scheinbar mit dem Ganzen unzusammenhängende Erzählungen, eine wenig stringente Handlungsführung, Abschweifungen theoretischer Natur – Wilhelm Meisters Lehrjahre nimmt die offene, dem Fragmentarischen zuneigende Romanform der Romantik vorweg. So sind Ludwig Tiecks Franz Sternbalds Wanderungen und Novalis’ Heinrich von Ofterdingen ohne Goethes Werk kaum vorstellbar. Da er aber eben auch in seinem letztlichen Abrücken von der Kunst als Endzweck des Lebens eine stark realistische Komponente besitzt, wirkte dieser Roman ebenso auf das 19. und weit ins 20. Jahrhundert hinein.

Seiten