Interpretation "Hyperion" von Friedrich Hölderlin (Seite 2)

Allerdings wäre es verzerrend, Hölderlins Werk auf eine einzige Klage über den Zustand der Welt und die Isolierung des Subjekts zu reduzieren. Mag die Erfahrung von Leid eine wichtige, sicherlich konstitutive Rolle spielen, so ist sie doch nur ein Aspekt der Hölderlinschen Weltanschauung. Denn auch das Schicksalslied stellt innerhalb des Briefromans Hyperion oder der Eremit in Griechenland nicht den Endpunkt dar, sondern ist poetischer Ausdruck einer schmerzhaften Befindlichkeit, deren Überwindung – nicht nur in diesem Text – thematisiert wird. Hyperion, dessen politische Unternehmungen scheitern und dessen persönliches Glück durch den Tod Diotimas zerstört wird, findet in der All-Einheit der Natur Zuversicht und Geborgenheit: "Lebendige Töne sind wir, stimmen zusammen in deinem Wohllaut, Natur!" Dabei darf dies keineswegs als eskapistische Haltung verstanden werden, sondern als Resultat der Erweiterung seines Bewusstseins, das die umfassende, das Leid des Einzelnen aufhebende Macht eines ganzheitlich erlebten Kosmos erkennt.

"O du, so dacht ich, mit deinen Göttern, Natur! ich hab ihn ausgeträumt, von Menschendingen den Traum und sage, nur du lebst, und was die Friedenslosen erzwungen, erdacht, es schmilzt, wie Perlen von Wachs, hinweg von deinen Flammen!"

Und so wird die gewonnene Einsicht Hyperion nicht nur zum Trost, sondern zur Gewissheit einer über das Schicksalhaft-Leidvolle hinauswirkenden Harmonie der Welt:

"Schönheit der Welt! du unzerstörbare! du entzückende! mit deiner ewigen Jugend! du bist; was ist denn der Tod und alles Wehe der Menschen? – Ach! viel der leeren Worte haben die Wunderlichen gemacht. Geschiehet doch alles aus Lust, und endet doch alles mit Frieden.

Wie der Zwist der Liebenden, sind die Dissonanzen der Welt. Versöhnung ist mitten im Streit und alles Getrennte findet sich wieder."

In späteren Texten hat Hölderlin diesen Prozess der Versöhnung, der auf individueller Ebene in vielen Gedichten angelegt ist – etwa in der Abendphantasie mit der Auflösung der Frage "warum schläft denn / Nimmer nur mir in der Brust der Stachel?" durch die Schlusszeile "Friedlich und heiter ist dann das Alter" – zu einem geschichtsphilosophisch-religiösen Ansatz erweitert. Seine Elegie Brod und Wein stellt die Gegenwart, die symbolisch als Nacht gesetzt wird, als Ruhephase dar zwischen der alten, versunkenen Götterwelt und einem kommenden neuen Zeitalter, für das der letzte der Himmlischen, eine Bacchus-Christus-Gestalt, Brot und Wein als Zeichen und Pfand hinterlassen hat. Auch die Hymne Patmos spricht die Zuversicht in das Kommende aus: "Nah ist / Und schwer zu fassen der Gott. / Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch."

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