Interpretation "Das Schloß" von Franz Kafka (Seite 2)

Die angsterfüllte Atmosphäre ist um so verwunderlicher, als wir von keinen drakonischen Strafmaßnahmen des Schlosses erfahren. Das einzige Beispiel einer Bestrafung ist das der Barnabas-Familie – doch bleibt in diesem Fall unklar, ob überhaupt eine Bestrafung seitens des Schlosses stattgefunden hat. Denn dass die Dorfbevölkerung die Familie des Barnabas wie Aussätzige behandelt, scheint nicht auf Befehl des Schlosses zu geschehen. Offensichtlich ist dies lediglich die Tatsache geschuldet, dass die Handlungsweise Amalias im Dorf bekannt geworden ist: Sie hatte den Brief eines Beamten, der sie zur sexuellen Gefügigkeit aufforderte, zerrissen und dem überbringenden Boten ins Gesicht geworfen. Die Dorfbewohner wollen aber mit Leuten, die es sich mit dem Schloss verderben, nichts mehr zu tun haben. Ihre Angst vor der Strafe bewirkt selbst die Strafe des sozialen Ausschlusses, ohne dass eine Sanktion seitens des Schlosses überhaupt nötig wäre.

In den Augen K.s (und damit des Lesers) erscheint das Verhalten Amalias freilich völlig gerechtfertigt – schließlich hat ihr ein Beamter einen unsittlichen Antrag gemacht, und sie hat nichts weiter getan, als sich dagegen zur Wehr zu setzen. Für die Dorfbewohner ist dies ein unglaublicher und inakzeptabler Ungehorsam, denn es ist für sie selbstverständlich, jedem Wink eines Beamten aus dem Schloss zu gehorchen.

Nicht weniger rätselhaft als die kleine Welt von Dorf und Schloss ist die Figur des K. selbst. Sein voller Name wird nicht genannt, so, als müsse er aus Gründen der Diskretion verschwiegen werden oder als sei er ohnehin schon bekannt und könne daher aktenmäßig abgekürzt werden. Wir erfahren nichts von seiner Vorgeschichte, außer, dass er als Kind einen großen Ehrgeiz darin entwickelt, die Friedhofsmauer zu erklimmen, was ihm schließlich auch gelingt. Seine Behauptung, er sei Landvermesser und vom Schloss bestellt, ist offenbar eine bloße Schutzbehauptung, um seine Anwesenheit im Dorf zu rechtfertigen. Sein Pech ist, wie er später feststellt, dass er gleich am ersten Abend die Aufmerksamkeit der Behörden erregt, andernfalls wäre er wohl irgendwo als Knecht untergekommen.

Befremdlich und unerklärlich ist allerdings, dass die Behörde sofort auf die Behauptung, er sei Landvermesser, eingeht. Es mag sein, wie der Gemeindevorsteher K. erklärt, dass alles nur auf einen Irrtum beruht und die Behörde tatsächlich einen Landvermesser angefordert hat, wenngleich es nichts für ihn zu tun gibt. K. fasst allerdings die erste Reaktion von seiten des Schlosses ganz anders auf; er überlegt sich, als er glaubt, zum Landvermesser ernannt worden zu sein:

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