Interpretation "Das Schloß" von Franz Kafka (Seite 4)

Die Frage, was durch das Schloss und seine Behörde eigentlich verkörpert wird, hat viele Interpreten beschäftigt. Wichtig ist, wie bei der Deutung aller Werke Kafkas, dass man nicht versucht, eine eindeutige Zuordnung vorzunehmen, so, als würde das Schloss einfach etwas Bekanntes symbolisieren, etwa das reale Behördenwesen zu Kafkas Zeit oder gar Gott. Vielmehr scheint es um abstraktere Strukturen zu gehen, die mit dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft zu tun haben. Es geht dem Individuum darum, einen Platz in der Gesellschaft zu finden und als ihr Mitglied aufgenommen zu werden. Kafkas Werk lässt die Alpträume eines Menschen Realität werden, der das Gefühl hat, ihm werde die fundamentale Anerkennung als Mitmensch verweigert. Diese eigentlich selbstverständliche Anerkennung muss erst von einer mächtigen Behörde ausgesprochen werden, die allerdings durchschaut, dass man nur ein ungebetener Gast ist, der sich mit falschen Angaben in die Gemeinschaft einschleichen will. Die Welt, die Kafka darstellt, versinnbildlicht also die Empfindung, nicht dazuzugehören und die eigene soziale Identität nur durch Vorspiegelung falscher Tatsachen erlangt zu haben. Es sind die Gefühle eines Menschen, der zutiefst am Wert seiner Person zweifelt, die hier ins Bild gesetzt werden. Dazu kommt eine zwanghafte, geradezu paranoide Komponente: Alles wird von einer Behörde überwacht, die nach ihrem Belieben über die Menschen verfügt, für die sie umgekehrt aber völlig unzugänglich bleibt. Des einzige Ziel, dass zu verfolgen sich lohnt, ist, in das Innere dieser Behörde zu gelangen und dort endlich die begehrte Anerkennung zu bekommen.

Sicherlich ist Kafkas Literatur von seiner individuellen Neurose geprägt, doch es wäre verfehlt, sie darauf reduzieren zu wollen. Kafkas Werke drücken etwas aus, was sehr viele, wenn nicht die meisten Menschen der modernen Gesellschaft fühlen: eine fundamentale Unsicherheit gegenüber den Anderen und einen nagenden Zweifel am eigenen Wert und am individuellen Recht auf Anerkennung.

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