Interpretation "Der Prozeß" von Franz Kafka (Seite 4)

Solche Interpretationsansätze sind nicht ganz unberechtigt. Man muss sich allerdings hüten, allzu einfache Gleichungen aufzustellen wie 'das Gesetz = das Über-Ich' oder 'das Gesetz = religiöse Instanz (Gott)'. Denn gerade das Gesetz zeichnet sich durch seine letztendliche und wesenhafte Unzugänglichkeit und Undeutbarkeit aus. Dieses Gesetz, das K.s Verhaftung verlangt und Grundlage seines Prozesses ist, ist ebenso Thema des Romans wie die völlige Undurchsichtigkeit der Gerichtsinstanz. Alle Versuche, mittels Vernunft einen Sinnzusammenhang zu erkennen, müssen deshalb notwendig scheitern – sowohl beim Helden als auch beim Leser.

Die Parabel vom Türhüter gegen Ende des Romans macht dieses Scheitern der Vernunft zur Erklärung des Gesetzes deutlich: "'Mißverstehe mich nicht', sagte der Geistliche, 'ich zeige dir nur die Meinungen, die darüber bestehen. Du mußt nicht zuviel auf Meinungen achten. Die Schrift ist unveränderlich und die Meinungen sind oft nur ein Ausdruck der Verzweiflung darüber.'" Die weiteren interpretatorischen Versuche des Geistlichen und Josef K.s an diesem Text zeigen die Unmöglichkeit einer logisch-stimmigen, eindeutigen Aussage. Diese Textinterpretation, die gleichzeitig Teil des fiktiven Textes ist, lässt im übrigen jede weitere Interpretation zur Meta-Interpretation werden.

So hat man die Erzählungen und Romane Kafkas, und ganz besonders den Prozeß, zu Recht als "erkenntnistheoretische Reflexionsprosa" bezeichnet, in der das Wesen des Verstehens selbst thematisiert wird. (Vietta/Kemper) Wenn Josef K. die Situation, in der er sich unvermittelt befindet, deuten und verstehen will, um sich notdürftig zurechtzufinden, sie aber nicht mehr begreifen kann, weil Reflexion und Situation, Bewusstsein und Sein auseinanderklaffen, wird die Reflexion selbst als unendlicher, nie zu einem Ende kommender Prozess Gegenstand der Darstellung. Was die Welt des Gerichts aber wirklich ist, bleibt letztlich verschlossen.

Mit diesem grundsätzlichen Misstrauen einer rational-logischen Deutbarkeit der Welt korrespondiert bei Kafka das Auseinanderdriften von Sprache und Wirklichkeit. Es wird solange etwas behauptet, gleich darauf eingeschränkt, wieder halb zurückgenommen, korrigiert, bis sich die Aussage hinter einer Vielzahl von Halbaussagen schließlich völlig verflüchtigt hat: "nichts wäre aber verfehlter als daraus zu folgern" "natürlich nur soweit dies möglich ist""aber das Wichtigste ist dies nicht", etc. Während sich bei vielen Zeitgenossen im Umkreis des Expressionismus eine ganz ähnliche Vernunftkritik in Sprachexperimenten und im Zerbrechen der logischen Strukturen äußert, schreibt Kafka zunächst scheinbar konventionell. Doch er führt diese Konventionalität durch die exzessive Verwendung von Einschränkungs- und Rücknahmefloskeln ad absurdum. "'Man muß nicht alles für wahr halten, man muß es nur für notwendig halten,' [...] sagte der Geistliche. 'Trübselige Meinung', sagte K. 'Die Lüge wird also zur Weltordnung gemacht.' K. sagte das abschließend, aber sein Endurteil war es nicht."

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