Biographie Heinrich von Kleist (Seite 2)

An Wilhelmine schreibt er noch nach seiner Rückkehr nach Berlin sehnsuchtsvolle Briefe, erzählt ihr dabei auch von seinem Vorhaben, sein Amt im Staatsdienst – trotz der fortwährenden finanziellen Probleme – zu kündigen. Kleists berufliche Orientierungslosigkeit geht mit Schwierigkeiten, sich in seinem sozialen Umfeld zu behaupten, einher. Es handelt sich um einen Teil seiner permanenten, sich im Folgenden nur noch verschärfenden Lebenskrise. Seiner Halbschwester schreibt er: „Liebe Ulrike, es ist ein bekannter Gemeinplatz, dass das Leben ein schweres Spiel sei; und warum ist es schwer? Weil man beständig und immer von Neuem eine Karte ziehen soll u[nd] doch nicht weiß, was Trumpf ist.“ Auslöser von Kleists Verzweiflung ist, dass er sich der Zufälligkeit des Weltgeschehens ausgeliefert sieht. Die Erfahrung von Kontingenz ist eine Problematik, um die seine später entstehenden Erzählungen kreisen.

Immer häufiger ist in Kleists Briefen nun die Rede von seiner verzweifelten Suche nach ‚Wahrheit’; die Lektüre von Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft löst eine fundamentale Krise aus. Seine frühere Vorstellung, einen vorab entworfenen ‚Lebensplan’ zielgerichtet verwirklichen zu können, erscheint ihm von diesem Moment an unmöglich. Erschüttert stellt er fest, die ‚Wahrheit’ bliebe unergründbar für den Menschen, da jeder Einzelne nur unter der Brille der Subjektivität zu urteilen vermöge: „So ist es mit dem Verstande. Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint.“ Zwar sind Zweifel am aufgeklärten Weltbild Kleists bereits vor seiner Begegnung mit der Kritik der Urteilskraft in den Briefen belegt, jedoch scheint die Kantlektüre zumindest den entscheidenden Anstoß zu der von nun ab dauerhaft verfolgten schriftstellerischen Tätigkeit gegeben zu haben.

Kleists zunehmender Verlust der Bindung an sein soziales Umfeld in Berlin, ebenso wie die mit der Identitätskrise einhergehenden beruflichen Schwierigkeiten und der Zusammenbruch seines Weltbildes veranlassen ihn zu einer Reise nach Paris. Hier beschließt er nach der Lektüre Rousseaus, in die Schweiz überzusiedeln, um eine einsame Existenz unter einfachsten Bedingungen auf einem Bauernhof zu verleben. In der ländlichen Idylle sucht er Selbstverwirklichung in der Verbundenheit zur Natur. Aber auch die Hoffnung, finanziell unabhängig zu sein, spielt eine bedeutende Rolle. Als Wilhelmine, die er in den Briefen leidenschaftlich von seinem Vorhaben zu überzeugen versucht, sich weigert, seinen Plänen Folge zu leisten, löst er im Jahr 1802 die Verlobung. Zur Verwirklichung des Landlebens kommt es dennoch nicht. Kleist wird krank; seine Schwester Ulrike reist nach Bern und bringt ihn zurück nach Preußen.

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