Interpretation "Über das Marionettentheater" von Heinrich von Kleist (Seite 2)

Dass sich die aus dem Verlust entstehende „Unordnung“ in der Grazie der Menschen nicht nur auf Tanz im engeren, oder Kunst im weiteren Sinne bezieht, sondern sich ausdehnt auf jegliche Form von Schönheit, geht aus der zweiten Anekdote hervor, mit der der Ich-Erzähler auf die Ausführungen des Tänzers antwortet: Der Jüngling verkörpert in dieser eine vollkommene Form von Grazie – bis zu dem Zeitpunkt, da er sich dessen bewusst wird. Aus der Erkenntnis heraus, dass seine Schönheit von außen wahrnehmbar ist, beginnt die Motivation des jungen Mannes, sie entsprechend zu repräsentieren und zu inszenieren. Ebendiese Absicht geht nach Ansicht des Erzählers allerdings zwangsweise mit dem Verlust seiner „Unschuld“ und damit der Grazie einher.

Die bestehende Überlegenheit des Naturprinzips über die Künstlichkeit kommt schließlich in der dritten, wiederum vom Tänzer erzählten Anekdote zum Ausdruck. Hier verkörpert der Bär das unreflektierte Bewusstsein, dem der Fechtende Einhalt zu gebieten sucht. Aufgrund seiner Natürlichkeit lässt sich das Tier, so stellt der Tänzer fest, allerdings nicht von der ‚Künstlichkeit’ der Finten täuschen und geht infolge dessen als Sieger aus dem Zweikampf hervor. Er scheint in seinen Bewegungen die Leichtigkeit zu haben, die der Tänzer zuvor an der Marionette hervorhob.

Kleist geht in der hier angebotenen Ästhetikvorstellung davon aus, dass durch die Absicht, Grazie oder Schönheit zu produzieren, diese bereits unmöglich gemacht wird. Damit wird ein konträres Konzept zur während der Weimarer Klassik bestehenden Kunstauffassung entworfen: Friedrich Schiller vertritt in seinem Aufsatz Über Anmuth und Würde (1793) die Ansicht, dass eben gerade der Wille, Anmut bzw. Grazie zu produzieren, Teil derselben sei. Bereits dies wird von Kleist allerdings als Nachahmung von Natürlichkeit, deshalb Künstlichkeit verstanden, die seinem Verständnis von Grazie widerspricht. Kleists Kunsttheorie entspricht einer eher modernen Auffassung und findet deshalb zu seinen Lebzeiten noch keine Zustimmung. Seine Ansichten werden erst später aufgegriffen; im 20. Jahrhundert beginnt eine weitreichende Auseinandersetzung mit der hier konzipierten Ästhetik.

Die in den drei Anekdoten formulierte Vorstellung Kleists ist allerdings keine konsistente; darauf deuten schon die viele Unschlüssigkeiten in der Argumentation der Sprecher hin. So repräsentiert beispielsweise die erwähnte Statue des Dornausziehers für den Erzähler das Naturprinzip; diese ist jedoch offenkundig mit Menschenhand erschaffen, auf der Basis eines reflektierenden Bewusstseins. Diese Argumentation läuft dem entworfenen Ästhetikkonzept zuwider; die Problematik wird im Gespräch allerdings nicht weiter thematisiert.

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