Interpretation "Das Erdbeben in Chili" von Heinrich von Kleist (Seite 2)

Die Möglichkeit zur Flucht wird Jeronimo allerdings nicht nur im engeren Sinne durch das zusammenstürzende Gefängnis ermöglicht; es ist im weitesten Sinne der „Umsturz aller Verhältnisse“, der gesellschaftlichen Bedingungen innerhalb St. Jagos, der sein Todesverlangen in Überlebenswillen verwandelt.

Nach demselben Prinzip gestaltet sich der Rettungsweg Josephes: auch ihr ermöglicht die eigentliche Todesnähe – sie befindet sich im Freien, auf dem Richtplatz – die Flucht vor den einstürzenden Gebäuden. Dass als Folge des Erdbebens eine Verkehrung aller Gegebenheiten stattfindet, wird betont durch die Beschreibung der zerstörten Gebäude auf dem Weg Josephes durch die Stadt: Die sie verurteilenden Institutionen und ihre Vertreter sind dem Erdbeben zum Opfer gefallen. Sie begegnet der Leiche des Erzbischofs und der Äbtissin und erblickt die Trümmer der Kathedrale, des Klosters und auch ihr väterliches Haus ist zerstört. Die Autoritäten versinnbildlichen die Grausamkeit der Gesellschaft, die das Urteil über das junge Paar gefällt hat.

Kontrastiert wird die Beziehung der Liebenden von der bigotten Gesellschaft der Stadt St. Jago, deren Unmenschlichkeit in ihrem starren Gesetzesdenken und der völligen Verkehrung der Ideale des Christentums zum Ausdruck kommt. Mit der Hinrichtung Josephes glaubt die Bevölkerung, ein Gottesurteil zu vollstrecken. Dem Erzbischof hingegen, so deutet der Erzähler an, geht es ebenso um die Wiederherstellung der kirchlichen ‚Ehre’. Auch die weitere Darstellung der Stadtgesellschaft ist von ironischen Untertönen begleitet, die auf der Diskrepanz von vermeintlich göttlichem Willen und der Einhaltung christlicher Gebote beruht. So auch die „Schaulust“ der „frommen Töchter“ anlässlich der Hinrichtung Josephes: eine zweifelhafte Form von Sittlichkeit.

Insbesondere die ironischen Momente verweisen auf Kleists ablehnende Haltung gegenüber der Gesellschaft. Seine Kritik gilt allerdings nicht einer bestimmten Gesellschaftsform oder speziellen Institutionen, sondern dem System an sich; im Sinne Rousseaus wird von ihm die Möglichkeit der Selbstverwirklichung des einzelnen Menschen innerhalb gesellschaftlicher Strukturen per se ausgeschlossen. Jeronimo und Josephe stehen exemplarisch für die Unmöglichkeit der Existenz von privatem Liebesglück und Familie in einer Umwelt, in der die Interessen der Individuen von der Masse zermalmt werden.

Als Gegenbild zu den etablierten Gesellschaftsstrukturen zeichnet Kleist im Mittelteil der Erzählung die Idylle des Tals vor der Stadt, die erst durch das Erdbeben, den „Umsturz aller Verhältnisse“ möglich gemacht wird. Hier scheint „der menschliche Geist selbst, wie eine schöne Blume aufzugehn“ und es ist, „als ob das allgemeine Unglück alles, was ihm entronnen war, zu einer Familie gemacht hätte.“ Kleist beschreibt eine Art vorgesellschaftlichen Zustand, ausgestattet mit Bibelzitaten. Auch die Namen der Figuren entstammen der christlichen Tradition: Jeronimo, Josephe und der kleine Philipp können insofern als Analogie zur Heiligen Familie verstanden werden.

Seiten