Interpretation "Das Erdbeben in Chili" von Heinrich von Kleist (Seite 3)

Dass die beschriebene Idylle jedoch von zweifelhaftem Charakter ist, wird anhand mehrerer Details sichtbar. Dazu zählt die Unglaubwürdigkeit der singenden Nachtigall und des blühenden Granatapfelbaums während des chilenischen Winters. Sprachlich wird durch die Formulierung „als ob“ immer wieder vom Erzähler darauf hingewiesen, dass hier nicht von beständigen Tatsachen die Rede ist. Darüber hinaus wird der Mittelteil der Erzählung von ihm als ein poetisches Konstrukt gekennzeichnet; bezeichnenderweise weist er darauf hin, diese Welt sei „wie nur ein Dichter davon träumen mag.“ Wie brüchig die Idylle ist, zeigt die rasche Reformation der gesellschaftlichen Strukturen. Dass die Institutionen durch das Erdbeben keineswegs zerstört, sondern nur vorübergehend außer Kraft gesetzt werden, wird bereits am nächsten Morgen – mit der Ankündigung des Gottesdienstes – deutlich. Auch die aus den Handlungen der Autoritäten resultierende Unrechtmäßigkeit ist bereits einen Tag nach dem Erdbeben wieder gegeben: An dem Galgen, den der Vizekönig zur Sicherung vor Diebstahl aufstellen lässt, wird „ein Unschuldiger [...] aus Übereilung ergriffen, und sogleich auch aufgeknüpft.“

Jeronimo und Josephe „versehen“ (Walter Müller-Seidel) sich allerdings. Die zerstörten Gebäude und die ums Leben gekommenen Autoritäten deuten sie als Ankündigung einer ‚besseren’ Gesellschaft, die es ihnen auch in Zukunft erlauben wird, ihr Familienglück zu realisieren. Die eigentlich bestehende Zufälligkeit der Ereignisse nehmen sie nicht als solche wahr, sondern interpretieren das Geschehen zu Gunsten des eigenen Schicksals. Hier kommen Gedanken Kleists zum Ausdruck, die ihn seit der Kant-Krise maßgeblich beschäftigten: die Unerkennbarkeit einer ‚Wahrheit’, die aus der bestehenden Subjektivität jeglichen Wahrnehmens resultiert.

Auf der Ebene der Erzählung äußert sich dies in der Handlungsweise der Figuren, die aus dem ihnen widerfahrenden Geschehen Kausalitätsprinzipien ableiten: Der Chorherr nennt während des Gottesdienstes den Verfall der Sittlichkeit im Klostergarten als Ursache für das Erdbeben, das seiner Ansicht nach die Vollstreckung einer göttlichen Strafe darstellt. Jeronimo und Josephe danken ihrerseits Gott für die rettende Maßnahme (das Erdbeben), die ihnen die Flucht ermöglicht. Diese vielfältigen Interpretationsmöglichkeiten ein- und desselben Geschehens, die Kleist in seiner Erzählung darstellt, offenbaren die Subjektivität jeglicher Betrachtungsweise im Gegensatz zum Bedürfnis der Menschen, dem Erdbeben eine – allerdings nicht bestehende – Schicksalhaftigkeit oder Gesetzmäßigkeiten zu unterlegen. Die aus den Interpretationen des Geschehens abgeleiteten Handlungsweisen der Figuren führen schließlich in die Katastrophe, die am Ende der Erzählung steht.

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