Interpretation "Prosatexte" von Conrad Ferdinand Meyer (Seite 3)

Neben der Relevanz der harten, empirischen Fakten hebt der Text zugleich auch die Bedeutung des Traumes hervor: In einem Traum sieht Schadau zwei mythologische Gestalten, die sich über den religiösen Fanatismus der Menschen wundern wie über "eine ungeheure Dummheit". Zwar wird mit keinem Wort erwähnt, ob Schadau daraus eine Lehre zieht und zu einer höheren Erkenntnis gelangt, doch zeigt der Traum, dass, wenn sein Verstand einmal nicht arbeitet, aus einer tieferen Schicht seiner Persönlichkeit Erkenntnisse aufsteigen, die seinem Tagesbewusstsein unzugänglich sind.

Jürg Jenatsch
Jürg Jenatsch, Meyers einziger Roman, behandelt eine Episode der schweizerischen Geschichte zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Noch mehr als im Amulett tritt die politische Intrige als ein das Schicksal der Menschen bestimmender Faktor hervor: Sie zwingt Jenatsch schließlich zum Verrat an sich selbst. Wie in der Hochzeit des Mönchs ist der Jähzorn der Auslöser einer tragischen Verstrickung, die nur zu einem bösen Ende führen kann. Der widersprüchliche Charakter des Jenatsch ist zu beidem fähig: der Jähzorn liegt ihm im Blut, die politische Intrige, die Falschheit und dieVerschlagenheit erlernt er von seinen Feinden – eine Kombination, die schließlich tödlich für ihn wird. Der Beilhieb ist übrigens historisch, das Beil wird heute noch im Schloss zu Riedberg gezeigt. Nicht historisch belegt dagegen ist, dass die Tat von einer Angehörigen der Plantas ausgeführt wurde; die Liebesbeziehung zwischen Lukretia Planta und Jürg Jenatsch ist eine Erfindung Meyers.

Der Schuß von der Kanzel
Der Schuß von der Kanzel wirkt nach dem düsteren Jenatsch wie ein munteres Satyrspiel. Eine Verbindung zwischen beiden Texten bildet die Figur des Wertmüller, der im Jenatsch als junger Soldat, im Schuß von der Kanzel als alter General auftritt. Ausnahmsweise führt hier die Intrige des souveränen Tatmenschen für den schwachen, auf ein bescheidenes Glück hoffenden Liebenden zu einem guten Ende. Doch ohne Intrige und Verstellung geht es bei Meyer auch in der Humoreske nicht: Der Spötter Wertmüller fängt den Pfarrer und seine Mitbürger ebenso sicher in seinem Netz wie Jenatsch seine politischen Gegner. Auch im humoristischen Genre bleibt Meyers Welt also eine "Welt des Zwanges und der Maske", wie es in diesem Text heißt. Nur ein "tiefes und wahres Gefühl" kann den Menschen aus dieser Welt in eine "größere und einfachere" Welt versetzen – doch damit dieses Gefühl, die Liebe, seine Erfüllung findet, sind wiederum List und die Intrige vonnöten.

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