Interpretation "Der Dichter und seine Dichtung" von Eduard Mörike (Seite 2)

Das Große, das Gesellschaftlich-Politische, ist Mörikes Sache nicht. Aber auch im Kleinen, in den Dingen des täglichen Lebens, hat er durchaus seine Schwierigkeiten. Als Pfarrer bereiten ihm die Predigten Kopf- und Magenschmerzen, und er lässt sich immer wieder von benachbarten Amtskollegen vertreten. Seinen bittenden Eingaben, ihm zur Betreuung der Gemeinde einen Pfarrgehilfen zur Verfügung zu stellen, haftet beinahe Lächerlichkeit an, und doch sind sie sehr ernst gemeint. Mörike ist, wie Holthusen es ausdrückt, ein hochgradiger Neurastheniker und Hypochonder von außerordentlich instabiler und irritabler Gemütsverfassung. Pfarrer Hartmann, ein Amtskollege mit weniger Verständnis für die sensible Psyche Mörikes, nennt ihn schlicht ein "faul's Luder."

Sein unglückliches Verhältnis zu geregelter Arbeit hat Mörike selbst als vis inertiae, als die 'Kraft der Untüchtigkeit', bezeichnet. Und doch war es gerade diese Untüchtigkeit, dieses scheinbar unproduktive, zwecklose Warten, das den "heiteren Blitz der Eingebung" ermöglicht, diesen poetisch-kreativen Anstoß, bei dem man, wie es in der Mozart-Novelle heißt, "nun im geringsten nichts erzwingen soll." Mörike ist nicht geboren zum schwäbischen Landpfarrer. Er ist Literat – sonst nichts.

Seine apolitische Haltung, sein Hang zum Privaten haben ihm den Ruf des biedermeierlichen Idyllikers eingetragen, der auf die sich anbahnenden gesellschaftlichen Umwälzungen mit Betulichkeit und Resignation reagiert. Doch der Vorwurf des Eskapismus kann nur durch die Unkenntnis seiner Werke aufrechterhalten werden. Eduard Mörike ist vor allem eines: ein ehrlicher Mensch. Darin liegt seine Größe, die Bedingung für die Autonomie seiner poetischen Texte – und zugleich der Grund für die vielen Missverständnisse, die eine Bewertung seiner Person und seines Werkes erschweren.

Mörike lebt in einer Übergangszeit und hat ein ausgeprägtes Bewusstsein für diese Situation. Wie Grillparzer und Grabbe hat er sich mit dem übermächtigen Erbe von Klassik und Romantik auseinandergesetzt, fühlt sich diesem noch zugehörig und doch schon herausgewachsen. Ohne den extremen Fatalismus des ersten und die extreme Zerrissenheit des zweiten sind ihm doch beide Tendenzen eigen. In seinem Leben formuliert sich bereits das Grundgefühl des ennui, das Baudelaire zum Schlagwort der Moderne prägen wird; seine Texte bilden in ihrer Zuwendung zum Alltäglichen, manchmal Skurrilen eine Brücke von Matthias Claudius und Jean Paul zu Christian Morgenstern und Günter Eich.

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