Interpretation "Duineser Elegien (1923)" von Rainer Maria Rilke (Seite 2)

2. Elegie: In der zweiten Elegie stehen zunächst Engel und Menschen in einer Opposition, die gleichzeitig über die Vergänglichkeit des Irdischen klagt und die Unvereinbarkeit des Engelhaften und des Menschlichen offenbart. Engel sind wie Spiegel, „die die entströmte eigene Schönheit wiederschöpfen“, während der Mensch ein vergängliches Wesen ist, „denn wir, wo wir fühlen, verflüchtigen“.

Einzig den Liebenden ist es vergönnt, zumindest zeitweise den Gesetzen der Vergänglichkeit zu entgehen. Dennoch besteht auch für sie Gefahr, nämlich die der Gewöhnung („Liebende, seid ihrs dann noch?“)

Dem wird eine Idealisierung („Erstaunte euch nicht ...?“) der griechischen Antike gegenübergestellt, in der die Sehnsucht des Menschen nach einer Teilhabe an jener Göttlichkeit enthalten ist („Fänden wir auch ...“).

3. Elegie: Die dritte Elegie widmet sich dem geschlechtlichen Trieb, jenem „verborgenen schuldigen Fluß-Gott des Bluts.“ Das Beängstigende dieses kraft- und gewaltvollen Triebes, paraphrasiert in der Figur Neptun/Poseidon, erscheint zunächst in vollem Umfang, verlangt dann aber Beschwörung (“O des Blutes Neptun, o sein furchtbarer Dreizack. O der dunkle Wind... „).

Nach und nach mildert sich der angstbringende Schatten, und zwar in dem Maße, in dem die Mutterfigur in Erscheinung tritt, die dabei aber durchaus auch ambivalent ist und bleibt, denn „du warsts, die ihn anfing“. Der Weg des Jünglings führt „wie er sich ein-ließ“ unweigerlich in die Welt seiner Gefühle.

4. Elegie: Die vierte Elegie setzt sich vor allem mit dem menschlichen Bewusstsein und den Bedingungen der menschlichen Existenz, der conditio humana, auseinander, mit der melancholisch-bitteren Erkenntnis, dass der Mensch uneins ist mit sich („wir sind nicht einig“) und dass es kein Entrinnen vor der Vergänglichkeit gibt („Wo wir Eines meinen, ganz, ist schon des andern Aufwand fühlbar“), dass das Gute das Böse beinhaltet und das Leben den Tod („Blühn und verdorrn ist uns zugleich bewußt“).

Wie schon in der ersten Elegie, werden hier den Menschen erneut die Tiere (hier: Löwen) gegenübergestellt (vgl. dazu auch die achte Elegie), die „von keiner Ohnmacht“ wissen und deshalb mit sich im reinen sind.

Die innere Zerrissenheit des Menschen wird symbolisch dargestellt auf einer Puppenbühne (Bühne des Inneren), auf der sich „Engel“ und „Puppe“, das Überbewußte und das Unterbewußte, begegnen, und „Dann kommt zusammen, was wir immerfort entzwein, indem wir da sind.“

Noch von dieser Zerrissenheit verschont sind die Kinder, die deshalb auch „den ganzen Tod, noch vor dem Leben [...] enthalten.“ Die besondere Stellung des Kindstodes ist nicht nur bereits aus dem dritten Teil des Stunden-Buches bekannt, sondern wird auch in Rilkes Prosa-Roman „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ thematisiert, hier vor allem in Form eines individuellen Todes, der bereits in der lebenden Person enthalten ist.

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