Interpretation "Duineser Elegien (1923)" von Rainer Maria Rilke (Seite 4)

8. Elegie: Die achte Elegie nimmt die in der vierten Elegie begonnene Auseinandersetzung zum menschlichen Bewusstsein wieder auf und stellt auch hier dem Menschen die Tiere gegenüber. Auffallend ist auch das Bild des Umgekehrten („unsre Augen sind wie umgekehrt“) bzw. des Umgedrehten (Wer hat uns also umgedreht“), das diese Elegie einrahmt und das für die Fremdheit des Menschen zu sich selbst und für sein Leiden aufgrund dieser fehlenden Vertrautheit steht.

Erstmals wird der für den späten Rilke typische Begriff des „Offenen“ gebraucht, der bereits in der „Verwandlung“ der vorangehenden Elegie anklingt. „Das Offene“ ist zu verstehen als ein freier Austausch zwischen dem Leben und dem Inneren, um, durch ein Innehalten im Augenblick, durch ein Verweilen im Jetzt, Verwandlung überhaupt erst möglich zu machen. Dieses Offene, der reine Raum, ist dem normalen Menschen versagt („Wir haben nie [...] den reinen Raum vor uns“), doch Kinder verlieren sich „an dies“, wer stirbt, der „ists“ und Liebende „sind nah daran“. Das Sein des Tieres dagegen ist „unendlich“, also grenzenlos und offen, ohne Bewusstsein für die Zeit, und damit ohne Vergangenheit und ohne Zukunft: „Und wo wir Zukunft sehn, dort sieht es Alles“.

Die folgende Strophe birgt einen offensichtlichen Widerspruch zu dieser Aussage, denn dort ist von „einer großen Schwermut“ die Rede, die auch das Tier ob seiner Erinnerung überfällt. Diese Erinnerung kann aber durchaus auch verstanden werden als etwas unbewusst Vorhandenes, das sich, obschon existent, dem Bewusstsein der Tiere entzieht. Diese wiederum sind umso seliger, je kleiner sie sind und je näher sie dem Schoß bleiben, dem sie entstammen; der Mensch ist schlussendlich, und nicht zum ersten Mal, die bedauernswerte Kreatur.

9. Elegie: Die neunte Elegie greift den Vergänglichkeitsgedanken wieder auf, der bereits in den ersten vier Elegien zum Ausdruck gebracht wurde, und fragt nach dem Sinn der menschlichen Existenz, die ohnehin ohne Schicksal bleibt („warum dann Menschliches müssen – und, Schicksal vermeidend, sich sehen nach Schicksal?“), während Helden und Heilige sehr wohl ihre Schicksale haben.

Der Versuch einer Antwort findet sich in der Idee einer im Inneren erstehenden, unsichtbaren Erde („Erde! unsichtbar!“), die den Wechsel hin zum Inneren notwendig macht, auch um den Preis der Aufgabe der äußeren Identität („Namenlos bin ich zu dir entschlossen“) bis hin zum Tod, der die Erfüllung des Lebens bedeutet: „Sieh, ich lebe.“

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