Interpretation "Die Räuber – Kabale und Liebe – Wilhelm Tell" von Friedrich Schiller (Seite 2)

Ohne dass an der 'Echtheit' ihres Rebellentums Zweifel aufkommen könnten, bleibt es jedoch offensichtlich, dass die persönlichen Gründe nicht nur auslösende Faktoren für punktuelle Entscheidungen sind, sondern dass eine deutlich zu spürende Neigung zur Selbstgerechtigkeit ihr Handeln bestimmt. Tell verweigert sich zunächst den Eidgenossen, schreitet aber, als in seinen Augen das Maß voll ist, zur alles entscheidenden Tat, für die trotz der objektiven Notwendigkeit die persönliche Verletztheit Tells ein ebenso starkes Movens darstellt.

Ebenso hat der durch Intrigen in seiner Existenz vernichtete Karl allen Grund, gegen die – vermeintlich – ungerechte Behandlung durch seinen Vater zu rebellieren. Die Wahl der Mittel jedoch kann allein aus dem Vorgefallenen, selbst wenn man ihm eine nur sehr eingeschränkte Einsichtsmöglichkeit in die wirklichen Zusammenhänge zugesteht, nicht zwingend abgeleitet werden. Sein Schritt zum Räuberhauptmann ist Maßlosigkeit, die – angefacht durch das Ansinnen der Freunde – aus der Verabsolutierung des eigenen Leids resultiert, die jeglichen Schritt seinerseits rechtfertigt. So erscheint sein Bruder Franz nicht so sehr als negative Gegenfigur zu Karl, sondern mehr als sein ins Monströse verzerrtes Spiegelbild – auch Franz ist ungerecht behandelt worden, wenn auch nicht von Menschen, sondern von den äußeren Umständen. Sein Handeln aus tiefer Verletztheit zeigt eine deutliche Analogie zu demjenigen Karls.

In unterschiedlicher historischer und charakterlicher Ausprägung, mit unterschiedlicher Gewichtung des einen oder anderen Aspekts begegnen uns mit Maria Stuart, Wallenstein, Johanna von Orleans, oder Don Karlos in den Dramen Friedrich Schillers immer wieder Menschen, deren Agieren sich auf dem schmalen Grat zwischen gerechter Empörung und verblendeter Raserei bewegt. Nehmen wir als Stichprobe den eher unspektakulären Ferdinand von Walter aus Kabale und Liebe, dem gewiss kein politischer Größenwahn unterstellt werden kann.

Ferdinand ist einerseits Idealist: er trotzt den standesmäßigen Konventionen, die eine Liebe zu einer Bürgerstochter verbieten, aus ethischer Überzeugung und nicht nur aus eigener Betroffenheit; programmatisch verkündet er, die aus reinem Kalkül ihm zugedachte Lady Milford im "Angesicht des [...] Adels, des Militärs und des Volks" verwerfen zu wollen und den Bruch mit seinem Vater nicht zu scheuen. Andererseits schlägt sein Enthusiasmus sehr schnell um: noch bevor die Intrige gesponnen wird, zeigt sich bei ihm die innere Bereitschaft zum Zweifel an Luises Liebe: seine Ich-Bezogenheit macht ihn unfähig, sich in die Gewissensnot der Geliebten einzufühlen. Als ihm das erpresste Dokument ihrer Untreue zugespielt wird, schenkt er der äußeren Evidenz sofort Glauben und ist nur noch in der Lage, seinen eigenen Schmerz zu sehen. In einem Akt der Selbstjustiz setzt er seinem und Luises Leben ein Ende; auch hier rechtfertigt die eigene Verletztheit das ergriffene Richteramt.

Seiten