Interpretation "Die Räuber – Kabale und Liebe – Wilhelm Tell" von Friedrich Schiller (Seite 3)

So ist diesen Dramen zweierlei gemeinsam: Einerseits die Auflehnung gegen ein vorgefundenes System des Unrechts, der Korruption und der Willkür, dessen Inhumanität durch die Negativ-Figuren Franz Moor, Sekretär Wurm und Reichsvogt Geßler verkörpert wird. Andererseits die narzißtische Veranlagung der Helden, deren Ich-Bezogenheit sie schicksalhaft in das Geschehen  hineinreißt. Diese Konstellation ist typisch für den Sturm und Drang, hat aber über diese Phase hinaus wegweisenden Charakter. Die radikale Auseinandersetzung des Individuums mit der Gesellschaft ist ein zentrales Thema der europäischen Romantik.

Dieser Gesichtspunkt ist für die Rezeption Schillers im Ausland ausschlaggebend und macht seine Bedeutung im Kontext der europäischen Literatur begreifbar. Abgesehen von der Tatsache, dass in der Literaturwissenschaft außerhalb Deutschlands der Sturm und Drang von jeher als eine der vielen Erscheinungsformen der europäischen Romantik angesehen wird, gilt es zu bedenken, dass vor allem in den romanischen Ländern neben der Lyrik das Drama die romantische Gattung par excellence war, und dass sich auf der Bühne Freiheit und Grenzen des Individuums artikulierten. Die allgemeine Rückbesinnung auf Shakespeare und die 'Rebellion' gegen den klassizistischen Zwang der drei Einheiten ist den europäischen Romantikern, allen voran Victor Hugo, mit den Stürmern und Drängern gemeinsam. Besonders Schillers Dramen wurden aber für das neue Theater als beispielhaft empfunden. In Spanien nennt das bedeutendste romantische Manifest, der Prólogo von Alcalá Galiano, Schiller als einziges deutsches Vorbild, und es ist kein Zufall, dass Giuseppe Verdi für seine Opern so oft ein Schillersches Stück als Vorlage wählt. Die politische Empörung und der Typus des idealistischen, zugleich aber von inneren Abgründen bedrohten Individuums trifft das Lebensgefühl eines Jahrhunderts der Revolutionen und Umbrüche.

Trotz allem: Schillers Helden mögen in unterschiedlichem Ausmaße neben ethischen auch persönliche, teils egozentrische Gründe für ihr Handeln haben – die in den drei erwähnten Dramen stattfindende Auflehnung gegen Unrecht und Unterdrückung hat Bestand, und zwar unabhängig von den Personen, die sich an ihr beteiligen. Die Sache, um die es letztlich geht, heißt Freiheit und ist über die Schwächen der einzelnen Akteure erhaben: sie bleibt das anzustrebende Ziel. Insofern sind die Räuber, Kabale und Liebe und Wilhelm Tell (und wahrlich nicht nur diese drei) auch immer als ethisch-politischer Appell zu verstehen. Die Bedeutung von Schillers Dramen lässt sich darauf nicht reduzieren, dazu sind sie ästhetisch und philosophisch zu komplex – was uns dennoch nicht daran hindern sollte, sie ganz bewusst mit ihrer politischen Botschaft aufzunehmen: als in jedem Sinne klassische littérature engagée.

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