Interpretation "Ästhetik des Widerstands" von Peter Weiss (Seite 2)

Mit dieser ambivalenten Rolle des Herakles kann sich Heilmann jedoch nicht abfinden. Er argwöhnt, dass dieser sich nur halbherzig dem gerechten Kampf verschrieben habe und dass es ihm eigentlich nur darum ginge, „seine eigne Schwäche und Unzulänglichkeit zu überwinden“. Dennoch möchte Heilmann ihn nicht aufgeben und interessiert sich in einem zweiten Anlauf vor allem für das Ende: „Und doch, sagt Heilmann, nimmt Herakles in diesem Augenblick, als der Ring seines Lebens sich schließt, wieder Größe an, fast Erhabenheit.“ Das Leben des Herakles gilt ihm jetzt als verdächtig, sein Tod dagegen bekommt durch seine Opferhaltung Vorbildcharakter. Doch trotz dieser Uminterpretation bleibt die Unvereinbarkeit beider Seiten in der Figur des Herakles vorhanden.

Heilmann erkennt dieses Dilemma im dritten Teil des Romans, in dem er sich erneut mit dem Mythos beschäftigt. Im Angesicht seiner eigenen Hinrichtung, der seinen Kampf gegen die Nationalsozialisten beenden wird, kommt er dazu, die gesamte Figur des Herakles als Vorbild zu nehmen. Er bezieht sich nicht mehr lediglich auf einen Aspekt (Leben oder Tod), sondern ausdrücklich auf die Vielzahl und Widersprüche in Herakles' Leben. Erst in diesem letzten Schritt erweist sich das „und doch“ nicht mehr als Trennendes, sondern als Verbindendes: Gekämpft haben Heilmann und seine Freunde bis zuletzt – wie Herakles. Sie haben gezeigt, dass Widerstand möglich und sinnvoll ist, „und doch“ sind sie letztlich gescheitert – wie Herakles. „Und wenn es so sei, sagte Heilmann, dann entferne ihn [= Herakles] dies nicht von uns, auch wir kämen zu unseren Erkenntnissen erst nach vielen Fehlschlägen, mit seinem Irren, seinen Utopien und Niederlagen, auch seinem Prahlen und seinen Verblendungen, werde er uns nur noch verwandter.“

Peter Weiss entwickelt mit dem „und doch“ eine Dialektik aus Überwinden (auch im Sinne von „Erkennen“) und Scheitern. Das „und doch“ ist gleichermaßen Antrieb zum Handeln und Notwendiges Scheitern: Die Einsicht, dass gesellschaftliche Prozesse prinzipiell veränderbar sind, Herakles hat es gezeigt, produziert Hoffnung für die Zukunft, auch wenn das einzelne Individuum auf dem Weg dorthin scheitern wird: „Noch wollen wir festhalten an unseren Hoffnungen, denn ohne sie hätten wir nicht weitergehen können, und ich würde sehn, wie wir danach immer wieder zu diesen Hoffnungen griffen, sie nie wahnwitzig nannten, obgleich alle Zeichen gegen sie sprachen, so wie die Hoffnung jedes Mal stärker war als das Scheitern, denn nichts anders war diese Hoffnung ja, als die Lebenskraft selbst.“ Dieses Konzept ist eng angelehnt an die Überlegungen des Philosophen Ernst Bloch, der Anfang der siebziger Jahre Schrieb: „Hoffnung hat eo ipso das Prekäre der Vereitlung in sich: sie ist keine Zuversicht ... Fundierte Hoffnung wird durch Schaden durchaus nicht klug. Enthält sie doch das Wesenhafte der Sache, dergestalt, daß eine gewordene schlechte Tatsächlichkeit, statt zu berichtigen, nun von der Latenz dessen, was in der Tendenz steckt, umgekehrt – gerichtet wird. Und diejenige Faktizität wird am gründlichsten gerichtet, die sich eben den Zielinhalt dieser Latenz maskenhaft beibiegt, um ihn desto verbrecherischer zu verraten.“

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