Interpretation "Dantons Tod" von Georg Büchner (Seite 2)

Die 3. Szene des 1. Akts gibt eine exakte Beschreibung der Lage: Robespierre wendet sich gegen »die inneren Feinde der Republik«, die »in zwei Heereshaufen [...] zerfallen«. Seine Rede, die im Übrigen wie ein Entwurf für eine Anklageschrift stalinistischer Prozesse gegen Abweichler jeglicher Richtung gelesen werden kann, führt unmittelbar in die zentrale Problematik des Stückes ein. Welche Ziele muss die Revolution verfolgen, nachdem der Erzfeind geschlagen worden ist? In Robespierres defensiver Haltung offenbart sich nicht nur das auf demagogische Warnungen vor konterrevolutionären Kräften gestützte Interesse am Machterhalt, sondern vor allem der Verlust sozio-politischer Inhalte. Héberts radikales Programm, das ein auf der Vernunft als Religionsersatz basiertes Utopia verwirklichen wollte, geht dem letztlich kleinbürgerlich geprägten Robespierre entschieden zu weit: Es "erklärte der Gottheit und dem Eigenthum den Krieg" und "hätte die Republik in ein Chaos verwandelt" – die alte Angst des Bürgertums vor dem Anarchismus.

Was Robespierre dagegenzusetzen hat, ist kein eigenes gesellschaftliches Modell, sondern ein Abstraktum: die Tugend, die zugleich die Rechtfertigung für den Schrecken liefert, "weil ohne ihn die Tugend ohnmächtig ist." Und indem er dadurch der konkreten inhaltlichen Diskussion ausweicht, gerät er notwendigerweise in Konflikt mit Danton – wohlgemerkt in keinen ideologischen, sondern in einen moralischen. "Das Laster ist das Cainszeichen des Aristocratismus", verkündet Robespierre und definiert ex negativo den eigenen auf Askese gegründeten Begriff von Tugend. Danton gehört für ihn zu jenen, "welche sonst in Dachstuben lebten und jezt in Carossen fahren und mit ehemaligen Marquisinnen und Baronessen Unzucht treiben" – das Lustprinzip hat keine Berechtigung im rigiden und – wie gesagt – kleinbürgerlichen Moralsystem Robespierres. Der ethisch-moralische Gegensatz zwischen beiden ist allerdings ein doppelter. Es ist nicht nur Dantons Verachtung für die strengen Vorstellungen des anderen, die beide Männer entzweit; es ist gerade sein Gewissen (II,5 zeigt dies sehr deutlich), das Danton dazu bewegt, sich der Dynamik des Mordens zu verweigern – anders als etwa Barrère, der in III,6 seine egoistische Selbsterhaltungsstrategie offen darlegt.

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