Interpretation "Drei Märchen-Almanache" von Wilhelm Hauff

Zu Lebzeiten ist Hauff vor allem als Romanautor bekannt. Die Mitteilungen aus den Memoiren des Satan, die H.-Clauren-Persiflage und Lichtenstein begründen seinen Ruf als Schriftsteller. Dass er auch Märchen schreibt, von denen einige heute der Weltliteratur zugerechnet werden, wird dagegen kaum wahrgenommen.

Nach den Kunstmärchen des Rokoko und der Aufklärung sowie den psychologisch und kunsttheoretisch motivierten Märchen der Romantik findet diese Literaturform um 1820 – an der Schwelle zum Realismus – in der Öffentlichkeit wenig Resonanz. Die Schwierigkeiten, auf die Märchen beim damaligen Lesepublikum stoßen, werden allegorisch in der Einleitung seines ersten Märchenalmanachs aufgezeigt: 'Märchen', die älteste Tochter der Königin 'Phantasie', beklagt sich bei ihrer Mutter, dass sie von den Menschen zurückgewiesen wird. Als Schuldige wird bald 'Mode', die 'böse Muhme' ausgemacht, die beide bei den Menschen verleumdet hat. Doch die Mutter spricht ihrer Tochter gut zu: "Wenn die Alten, von der Mode betört, dich geringschätzen, so wende dich an die Kleinen, wahrlich, sie sind meine Lieblinge." Und damit 'Märchen' der Zugang zu den Kindern und auch Erwachsenen erleichtert werde, streift die Mutter ihr das Gewand eines Almanachs über.

Hauff verbindet damit die aus der Mode geratene Literaturgattung des Märchens mit der sehr modischen Publikationsform des Almanachs – in dem Bewusstsein, dass er zuallererst das Interesse der Erwachsenen als Käufer der den Kindern zugedachten Lektüre gewinnen muss.

Ähnlich wie die Märchen aus Tausendundeiner Nacht sind in allen drei Sammlungen die Märchen in eine novellistische Rahmenhandlung eingebettet. Im ersten Märchenalmanach, der Karawane, geht es um eine Schar von Kaufleuten, die bei der Durchquerung der Wüste von Räubern bedroht und auf geheimnisvolle Weise gerettet wird. Die Rahmenhandlung des zweiten Märchenalmanachs, Der Scheich von Alexandria, spielt im Palast eines morgenländischen Fürsten, wo sich eine alte Prophezeiung erfüllt; im dritten, dem Wirtshaus im Spessart, der erst 1828, nach Hauffs Tod, erscheint, trifft eine Gruppe von Reisenden in einem einsam im Wald gelegenen Wirtshaus zusammen und vertreibt sich durch gegenseitiges Geschichtenerzählen die Furcht vor den berüchtigten Räuberbanden.

Die einzelnen Märchen sind dabei von sehr unterschiedlicher Natur; Abenteuergeschichten wie Die Errettung Fatmes stehen neben blutrünstigen Schauer- und Kriminalgeschichten (Das Gespensterschiff, Die Geschichte der abgehauenen Hand), daneben finden sich Zaubermärchen wie Kalif Storch, auch Sagenstoffe wie der vom Hirschgulden. Die Schauplätze liegen ebenso im Orient (Bagdad) wie im Abendland (Schwarzwald), die Kernstücke der jeweiligen Zyklen aber sind zweifelsohne Die Geschichte von dem kleinen Muck, Zwerg Nase und Das kalte Herz.

In den ersten beiden Märchen sind die Helden Außenseiter der Gesellschaft, Muck durch die angeborene Zwergengröße, Nase durch die Mißgestalt, die ihm durch Hexerei gegeben wird. Beide geraten mit dem Wunderbaren in Berührung, doch da ihnen Magie eher Fluch als Segen bringt, kehren beide letztendlich zu einem Leben ohne Zauberei zurück. Ähnlich ergeht es dem armen Köhler Peter Munk im Kalten Herzen, für den der Zauber, der ihn eigentlich zum wohlhabenden Mann machen sollte, sich hauptsächlich als Übel erweist. Die beiden Sagen- und Märchengestalten des Glasmännleins und des Holländer Michels verkörpern dabei widerstreitende Prinzipien: auf der einen Seite das Ethos christlicher Moral und bürgerlicher Wertvorstellungen (Fleiß, Ehrlichkeit, Mitmenschlichkeit), auf der anderen skrupellose Gewinnsucht und die Folgen – Eigennutz, Geiz und Hartherzigkeit. Zum Träger des Konflikts zwischen den beiden antagonistischen Waldgeistern wird der Kohlenmunkpeter, der, geblendet vom Reichtum, sein warmes, weiches Herz gegen eines von »Marmelstein« eintauscht.

Die Märchen der drei Almanache veranschaulichen Hauffs persönliches Gefühl für das Menschliche wie auch das gesellschaftliche Empfinden seiner Zeit: Trotz aller humoristischen, kauzigen Kapriolen und phantastischen Elemente, die die Geschichten von Muck und dem Zwerg Nase bergen, beinhalten sie Handlungselemente, die zu dem heiteren Grundton in starkem Gegensatz stehen. Nirgends wird dies deutlicher als im letztgenannten Märchen, wo Hauff, wie Ottmar Hinz schreibt, "ein ungeschminktes Bild menschlicher Aggressivität und Brutalität" entwirft. "Ohne jedes Mitleid, voll roher Schadenfreude und höhnischer Verachtung weiden sich Passanten, Nachbarn, Hofbediente an Zwerg Nases äußerem Makel; wo er auch hinkommt, schlägt ihm wieherndes Gelächter entgegen." Die soziale Anklage ist eindeutig; der Zwerg wird zum Symbol des Andersartigen, des Diskriminierten schlechthin.

Im Märchen Das kalte Herz hingegen begegnen wir dem allgemeinen gesellschaftlichen Bewusstsein der Zeit: Inmitten aller Phantastik und des märchenhaften Ambientes sind bereits hier die Vorboten der Moderne zu spüren: die wirtschaftliche und menschlich-psychische Krise, die Ängste der Bevölkerung, die durch die sich abzeichnende Industrialisierung ausgelöst werden. Dennoch finden sich auch im dritten Märchenalmanach noch Geschichten, die auf fremde Kulturen verweisen oder gänzlich märchenhaft angelegt sind. Die Höhle von Steenfoll ist eine schottische Sage, die Hauff den Tales of a Voyager entnommen hat, und Saids Schicksal spielt im Orient zur Zeit des legendären Harun al-Raschid.

Die wenigsten Geschichten sind Hauffs eigener Phantasie entsprungen. Immer hat er auf fremde Quellen zurückgegriffen und die Vorlagen im eigenen Sinne schöpferisch ausgestaltet und weiterentwickelt. So weit geht dieser Prozess der Nachdichtung und Neuschöpfung, dass Gustav Schwab zu dem Schluss kommt, "Hauff's eigentliches Dichtertalent" zeige sich nirgends "so rein und von fremdartigem und zufälligem so ungetrübt", nirgends sei er "der Poesie mit denjenigen Mitteln, die ihm dazu verliehen waren, so auf die rechte Spur gekommen, wie in diesen Mährchen, deren ursprünglicher Stoff zwar größtenteils nicht ihm selbst angehört, die jedoch mit so freiem Phantasiespiele behandelt und dabei doch so schön abgerundet sind, daß sie auch in dieser Beziehung unter seinen Werken obenan stehen."