Interpretation "Die drei Sprünge des Wang-lun" von Alfred Döblin

Wang-lun ist eine historische Figur; der Aufstand, den dieser Fischersohn anführt, hat tatsächlich 1774 stattgefunden. Er ist nur eine in einer Reihe vieler ketzerischer Unruhen im Norden Chinas, die von der kaiserlichen Regierung verfolgt werden. Wang-lun beruft sich zunächst auf die Lehre vom Wu Wei, vom Nichthandeln, die auf Laotse zurückgeht. Die Anhänger der Sekte verehren als Tempel das Weltall, ihre Götter sind die Berge und Flüsse. Sie sind Vegetarier und nennen sich Brüder und Schwestern. Taoistische und buddhistische Elemente verbinden sie in ihrem Glauben mit alten Vorstellungen volkstümlicher Mythologie. Doch ihr passiver Widerstand scheitert an der Realität politischer Machtverhältnisse und die Menschen greifen zu den Waffen; ein Konflikt, der in verschlüsselter Form auch die Probleme des deutschen Kaiserreichs zu Anfang des 20. Jahrhunderts widerspiegelt.

Döblin widmet sich in dem Roman, den er 1912 und 1913 schreibt, nicht dem technokratischen Fortschrittsdenken seiner Zeit, sondern ihren revolutionären Umbrüchen. Thema ist der Widerstand des Einzelnen gegen den totalitären Staatsapparat; ein Thema, das sowohl in Russland als auch in Deutschland nur wenige Jahre nach Erscheinen des Romans an neuer Aktualität gewinnen soll. Er recherchiert für den Roman, den er in nur zehn Monaten schreib t („auf der Hochbahn, in der Unfallstation bei Nachtwachen, zwischen zwei Konsultationen, auf der Treppe beim Krankenbesuch"), vor allem im Berliner Völkerkundemuseum. Er steht paradigmatisch für die Entstehungsgeschichte von Döblins Romanen: seiner lebenslangen, besessenen Recherchearbeit, seiner Begeisterung für Themen, seine Fähigkeit, sie aufzunehmen und literarisch umzuarbeiten.

Döblin geht es nicht um ein Heldendrama, sondern um die Wirkung charismatischer Führer auf die Masse. Wang-lun verschwindet über weite Strecken des Romans hinter den revolutionären Ereignissen, die er auslöst. Ihn interessiert die kollektive Katastrophe, das Scheitern einer religiösen und sozialen Bewegung und das allgemein menschliche Schwanken zwischen Hoffnung und Resignation, Kampf und Verzweiflung, Sieg und Niederlage. Dabei beschönigt er nichts; Wang-lun und die anderen Protagonisten werden in ihren guten und schlechten Charaktereigenschaften gezeigt.

„Im Grund ist der 'Wang-lun' weder ein religiöser noch ein sozialer noch ein politischer noch ein autobiografischer Roman. Alle diese Themen sind nur Schillerfarben des Zaubermantels, den Döblin hier trägt. Der Zaubermantel ist seine beispiellose Phantasie. In der chinesischen Einkleidung des Werkes lagen unbegrenzte Möglichkeiten seines Spieles, und er ging so bereitwillig auf sie ein, daß sich der Schwerpunkt aus dem Sachlichen ganz ins Formale schob. Statt eines Bekenntnisses entstand eine Phantasmagorie. So plastisch ihre einzelnen Szenen gestaltet sind, so fragmentarisch, flüchtig andeutend, oft spielerisch ist das Ganze.“ (Walter Muschg)

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