Ungekürztes Werk "Ledwina" von Annette von Droste-Hülshoff (Seite 7)

Gefühle beinahe lachen, da nach der vorzeitigen Berechnungsart der Kinder diese Verteidigung ihr galt.

»Ihr könnt euch freuen«, sagte sie, »nicht vor dreißig Jahren jung gewesen zu sein; da wurden die Leute im Verhältnis zu ihren Eltern nie groß. Widerspruch von der einen Seite gab es in der Ordnung gar nicht, und nur selten dargelegte Gründe von der anderen.«

»Es ist schlimm genug«, sagte Karl mit weicher Stimme, »daß es nun im Durchschnitt anders ist. Der Gehorsam gegen die Eltern ist ein Naturgesetz und beinahe so kostbar als das Gewissen. Ich bin überzeugt, daß die Wurzel fast aller jetzt grassierenden moralischen Übel in der Vernachlässigung des Alten steht. Der Mensch ist zu vielem fähig und geneigt, sobald er es, wenn auch noch so anständig, mit Füßen tritt. Es ist etwas Seltsames und Rührendes um ein Naturgesetz.«

»Und zudem«, sagte Therese, »gehorchen muß der Mensch noch irgend jemandem außer Gott, geistlich oder weltlich, das erhält ihn weich und christlich.« – »Ich glaube«, fügte Ledwina hinzu, »daß, wenn das, was Karl vorhin über die Alten sagte, einigen Grund hat, er gewiß in dem gänzlichen Mangel an einem Gegenstande des Gehorsams zu suchen ist; den gegen den Regenten üben sie, aber ohne ihn zu fühlen, da man ihnen gewöhnlich alle Geschäfte abnimmt.«

»Großenteils wahr«, versetzte Karl, »doch ist hier die Ehrsucht auszunehmen« – und dann schnell: »Notabene, der alte Franz ist ja tot; wie ist der zu Tode gekommen?«

»An einem Brustfieber«, entgegnete Therese, und Led­wina, deren Gesicht wieder ein weißer Flor überzog, setzte mit leiser Stimme hinzu: »Er hat sich erkältet, da er mir im vorigen Winter eine Bahn durch den Schnee fegen wollte.«

Sie stand auf und trat an eine im Schatten stehende Kommode, als ob sie etwas suche; denn sie fühlte, daß die Tropfen, die so leicht in ihre Augen traten, ihnen diesmal zu schwer würden.

»Da wolltest du hundert Jahre alt werden«, lachte Marie. »Denk mal, Karl, Ledwina meinte, sie wollte hundert Jahre alt werden, wenn sie alle Tage spazieren ging; das hat der alte Nobst aus dem Kinderfreunde auch getan.«

Die Mutter sagte, als habe sie Ledwinens Worte nicht bemerkt: »Er war durch den Schnee nach Endorf gewesen.«

»Er ist alt genug geworden«, sagte Karl, »ich glaube, er war schon über achtzig, so alt werde ich nicht.«

Ledwina beugte indes tiefverletzt über eine geöffnete Lade. Es war, als wolle man ihr das herzzerreißende, aber teure Geschenk dieses geopferten Lebens entreißen, und sie hielt es fest an sich gepreßt. In Wahrheit ließ die tödliche Krankheit dieses treuen Mannes, des Gatten der alten Lisbeth, viele Gründe zu, wie dies bei dem Ableben sehr alter Leute fast immer der Fall, und deshalb suchte die Frau von Brenkfeld mit jener beliebten, aber falschen Schonung, die das Herz verletzt, statt es zu heilen, und empört, statt es zu rühren, jenem wahrscheinlichsten Grunde seine eigentliche Heiligkeit zu stehlen und ihm nur die Glorie des letzten Zeichens der Anhänglichkeit zu lassen.

Marie war indes zu Ledwinen hingelaufen und quälte sie durch die unter Lachen immer wiederholte Frage: »Ledwina, du bist wohl recht bange vor dem Tode?

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