Ungekürztes Werk "Egmont" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 36)

Bald verwandelt sich der Schauplatz in das

Gefängnis

Egmont liegt schlafend auf dem Ruhebette. Es entsteht ein Gerassel mit Schlüsseln, und die Türe tut sich auf, Diener mit Fackeln treten herein; ihnen folgt Ferdinand, Albas Sohn, und Silva, begleitet von Gewaffneten. Egmont fährt aus dem Schlafe auf.

Egmont: Wer seid ihr, die ihr mir unfreundlich den Schlaf von den Augen schüttelt? Was künden eure trotzigen, unsichern Blicke mir an? Warum diesen fürchterlichen Aufzug? Welchen Schreckenstraum kommt ihr der halberwachten Seele vorzulügen?

Silva: Uns schickt der Herzog, dir dein Urteil anzukündigen.

Egmont: Bringst du den Henker auch mit, es zu vollziehn?

Silva: Vernimm es, so wirst du wissen, was deiner wartet.

Egmont: So ziemt es euch und eurem schändlichen Beginnen! In Nacht gebrütet und in Nacht vollführt. So mag diese freche Tat der Ungerechtigkeit sich verbergen! – Tritt kühn hervor, der du das Schwert verhüllt unter dem Mantel trägst – hier ist mein Haupt, das freiste, das je die Tyrannei vom Rumpf gerissen.

Silva: Du irrst! Was gerechte Richter beschließen, werden sie vorm Angesicht des Tages nicht verbergen.

Egmont: So übersteigt die Frechheit jeden Begriff und Gedanken.

Silva nimmt einem Dabeistehenden das Urteil ab, entfaltet’s und liest: “Im Namen des Königs und kraft besonderer von Seiner Majestät uns übertragnen Gewalt, alle seine Untertanen, wes Standes sie seien, zugleich die Ritter des Goldnen Vlieses zu richten, erkennen wir –”

Egmont: Kann die der König übertragen?

Silva: “Erkennen wir, nach vorgängiger genauer, gesetzlicher Untersuchung, dich, Heinrichen Grafen Egmont, Prinzen von Gaure, des Hochverrates schuldig und sprechen das Urteil: daß du mit der Frühe des einbrechenden Morgens aus dem Kerker auf den Markt geführt und dort, vorm Angesicht des Volks, zur Warnung aller Verräter mit dem Schwerte vom Leben zum Tode gebracht werden sollest. Gegeben Brüssel am” Datum und Jahrzahl werden undeutlich gelesen, so daß sie der Zuhörer nicht versteht.

“Ferdinand, Herzog von Alba,

Vorsitzer des Gerichts der Zwölfe.”

Du weißt nun dein Schicksal; es bleibt dir wenige Zeit, dich drein zu ergeben, dein Haus zu bestellen und von den Deinigen Abschied zu nehmen.

Silva mit dem Gefolge gebt ab. Es bleibt Ferdinand und zwei Fackeln; das Theater ist mäßig erleuchtet.

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