Ungekürztes Werk "Wilhelm Meisters Lehrjahre" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 383)

zu unserm Vertrauten, dem wir versprechen mußten, keinen Schritt zu dieser Verbindung zu tun, sondern alles seinen Gang gehen zu lassen. Wir haben es getan. Die Natur hat gewirkt, und der tolle Bruder hat nur die reife Frucht abgeschüttelt. Lassen Sie uns, da wir einmal so wunderbar zusammenkommen, nicht ein gemeines Leben führen; lassen Sie uns zusammen auf eine würdige Weise tätig sein! Unglaublich ist es, was ein gebildeter Mensch für sich und andere tun kann, wenn er, ohne herrschen zu wollen, das Gemüt hat, Vormund von vielen zu sein, sie leitet, dasjenige zur rechten Zeit zu tun, was sie doch alle gerne tun möchten, und sie zu ihren Zwecken führt, die sie meist recht gut im Auge haben und nur die Wege dazu verfehlen. Lassen Sie uns hierauf einen Bund schließen; es ist keine Schwärmerei, es ist eine Idee, die recht gut ausführbar ist und die öfters, nur nicht immer mit klarem Bewußtsein, von guten Menschen ausgeführt wird. Meine Schwester Natalie ist hiervon ein lebhaftes Beispiel. Unerreichbar wird immer die Handlungsweise bleiben, welche die Natur dieser schönen Seele vorgeschrieben hat. Ja sie verdient diesen Ehrennamen vor vielen andern, mehr, wenn ich sagen darf, als unsre edle Tante selbst, die zu der Zeit, als unser guter Arzt jenes Manuskript so rubrizierte, die schönste Natur war, die wir in unserm Kreise kannten. Indes hat Natalie sich entwickelt, und die Menschheit freut sich einer solchen Erscheinung.”

Er wollte weiterreden, aber Friedrich sprang mit großem Geschrei herein. “Welch einen Kranz verdien ich?” rief er aus, “und wie werdet ihr mich belohnen? Myrten, Lorbeer, Efeu, Eichenlaub, das frischeste, das ihr finden könnt, windet zusammen; so viel Verdienste habt ihr in mir zu krönen. Natalie ist dein! Ich bin der Zauberer, der diesen Schatz gehoben hat.”

“Er schwärmt”, sagte Wilhelm, “und ich gehe.”

“Hast du Auftrag?” sagte der Baron, indem er Wilhelmen festhielt.

“Aus eigner Macht und Gewalt”, versetzte Friedrich, “auch von Gottes Gnaden, wenn ihr wollt; so war ich Freiersmann, so bin ich jetzt Gesandter, ich habe an der Türe gehorcht, sie hat sich ganz dem Abbé entdeckt.”

“Unverschämter!” sagte Lothario, “wer heißt dich horchen!”

“Wer heißt sie sich einschließen!” versetzte Friedrich, “ich hörte alles ganz genau, Natalie war sehr bewegt. In der Nacht, da das Kind so krank schien und halb auf ihrem Schoße ruhte, als du trostlos vor ihr saßest und die geliebte Bürde mit ihr teiltest, tat sie das Gelübde, wenn das Kind stürbe, dir ihre Liebe zu bekennen und dir selbst die Hand anzubieten; jetzt, da das Kind lebt, warum soll sie ihre Gesinnung verändern? Was man einmal so verspricht, hält man unter jeder Bedingung. Nun wird der Pfaffe kommen und wunder denken, was er für Neuigkeiten bringt.”

Der Abbé trat ins Zimmer. “Wir wissen alles!” rief Friedrich ihm entgegen, “macht es kurz, denn Ihr kommt bloß um der Formalität willen; zu weiter nichts werden die Herren verlangt.”

“Er hat gehorcht”, sagte der Baron. “Wie ungezogen!” rief der Abbé.

“Nun geschwind”, versetzte Friedrich, “wie sieht’s mit den Zeremonien aus? Die lassen sich an den Fingern herzählen; Ihr müßt reisen, die Einladung des Marchese kommt Euch herrlich zustatten. Seid Ihr nur einmal über die Alpen, so findet sich zu Hause alles; die Menschen wissen’s Euch Dank, wenn Ihr etwas Wunderliches unternehmt, Ihr verschafft ihnen eine Unterhaltung, die sie nicht zu bezahlen brauchen. Es ist eben, als wenn Ihr eine Freiredoute gäbt; es können alle Stände daran teilnehmen.”

“Ihr habt Euch freilich mit solchen Volksfesten schon sehr ums Publikum verdient gemacht”, versetzte der Abbé, “und ich komme, so scheint es, heute nicht mehr zum Wort.”

“Ist nicht alles, wie ich’s sage”, versetzte Friedrich, “so belehrt uns eines Bessern. Kommt herüber, kommt herüber! wir müssen sie sehen und uns freuen.”

Lothario umarmte seinen Freund und führte ihn zu der Schwester; sie kam mit Theresen ihm entgegen, alles schwieg.

“Nicht gezaudert!” rief Friedrich. “In zwei Tagen könnt ihr reisefertig sein. Wie meint Ihr, Freund”, fuhr er fort, indem er sich zu Wilhelmen wendete, “als wir Bekanntschaft machten, als ich Euch den schönen Strauß abforderte, wer konnte denken, daß Ihr jemals eine solche Blume aus meiner Hand empfangen würdet?”

“Erinnern Sie mich nicht in diesem Augenblicke des höchsten Glücks an jene Zeiten!”

“Deren Ihr Euch nicht schämen sollet, sowenig man sich seiner Abkunft zu schämen hat. Die Zeiten waren gut, und ich muß lachen, wenn ich dich ansehe: du kommst mir vor wie Saul, der Sohn Kis’, der ausging, seines Vaters Eselinnen zu suchen, und ein Königreich fand.”

“Ich kenne den Wert eines Königreichs nicht”, versetzte Wilhelm, “aber ich weiß, daß ich ein Glück erlangt habe, das ich nicht verdiene und das ich mit nichts in der Welt vertauschen möchte.”

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