Ungekürztes Werk "Der Prozeß" von Franz Kafka (Seite 140)

schon dort. Er ist vom Gesetz zum Dienst bestellt, an seiner Würdigkeit zu zweifeln, hieße am Gesetz zweifeln.” “Mit dieser Meinung stimme ich nicht überein”, sagte K. kopfschüttelnd, “denn wenn man sich ihr anschließt, muß man alles, was der Türhüter sagt, für wahr halten. Daß das aber nicht möglich ist, hast du ja selbst ausführlich begründet.” “Nein”, sagte der Geistliche, “man muß nicht alles für wahr halten, man muß es nur für notwendig halten.” “Trübselige Meinung”, sagte K. “Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht.”

K. sagte das abschließend, aber sein Endurteil war es nicht. Er war zu müde, um alle Folgerungen der Geschichte übersehen zu können, es waren auch ungewohnte Gedankengänge, in die sie ihn führte, unwirkliche Dinge, besser geeignet zur Besprechung für die Gesellschaft der Gerichtsbeamten als für ihn. Die einfache Geschichte war unförmlich geworden, er wollte sie von sich abschütteln, und der Geistliche, der jetzt ein großes Zartgefühl bewies, duldete es und nahm K.s Bemerkung schweigend auf, obwohl sie mit seiner eigenen Meinung gewiß nicht übereinstimmte.

Sie gingen eine Zeitlang schweigend weiter, K. hielt sich eng neben dem Geistlichen, ohne zu wissen, wo er sich befand. Die Lampe in seiner Hand war längst erloschen. Einmal blinkte gerade vor ihm das silberne Standbild eines Heiligen nur mit dem Schein des Silbers und spielte gleich wieder ins Dunkel über. Um nicht vollständig auf den Geistlichen angewiesen zu bleiben, fragte ihn K.: “Sind wir jetzt nicht in der Nähe des Haupteinganges?” “Nein”, sagte der Geistliche, “wir sind weit von ihm entfernt. Willst du schon fortgehen?” Obwohl K. gerade jetzt nicht daran gedacht hatte, sagte er sofort: “Gewiß, ich muß fortgehen. Ich bin Prokurist einer Bank, man wartet auf mich, ich bin nur hergekommen, um einem ausländischen Geschäftsfreund den Dom zu zeigen.” “Nun”, sagte der Geistliche, und reichte K. die Hand, “dann geh.” “Ich kann mich aber im Dunkel allein nicht zurechtfinden”, sagte K. “Geh links zur Wand”, sagte der Geistliche, “dann weiter die Wand entlang, ohne sie zu verlassen, und du wirst einen Ausgang finden.” Der Geistliche hatte sich erst ein paar Schritte entfernt, aber K. rief schon sehr laut: “Bitte, warte noch!” “Ich warte”, sagte der Geistliche. “Willst du nicht noch etwas von mir?” fragte K. “Nein”, sagte der Geistliche. “Du warst früher so freundlich zu mir”, sagte K., “und hast mir alles erklärt, jetzt aber entläßt du mich, als läge dir nichts an mir.” “Du mußt doch fortgehen”, sagte der Geistliche. “Nun ja”, sagte K., “sieh das doch ein.” “Sieh du zuerst ein, wer ich bin”, sagte der Geistliche. “Du bist der Gefängniskaplan”, sagte K. und ging näher zum Geistlichen hin, seine sofortige Rückkehr in die Bank war nicht so notwendig, wie er sie dargestellt hatte, er konnte recht gut noch hierbleiben. “Ich gehöre also zum Gericht”, sagte der Geistliche. “Warum sollte ich also etwas von dir wollen. Das Gericht will nichts von dir. Es nimmt dich auf, wenn du kommst, und es entläßt dich, wenn du gehst.”

Zehntes Kapitel

ENDE

Am Vorabend seines einunddreißigsten Geburtstages – es war gegen neun Uhr

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