Kurzgeschichten (ungekürzt) von Franz Kafka (Seite 2)

Belustigungen

oder

Beweis dessen, daß es unmöglich ist zu leben

1

Ritt

Schon sprang ich – in Schwung, als sei es nicht das erste Mal – meinem Bekannten auf die Schultern und brachte ihn dadurch, daß ich meine Fäuste in seinen Rücken stieß, in einen leichten Trab. Als er aber noch ein wenig widerwillig stampfte und manchmal sogar stehen blieb, hackte ich mehrmals mit meinen Stiefeln in seinen Bauch, um ihn munterer zu machen. Es gelang und wir kamen schnell genug in das Innere einer großen, aber noch unfertigen Gegend.

Die Landstraße, auf der ich ritt, war steinig und stieg bedeutend, aber gerade das gefiel mir und ich ließ sie noch steiniger und steiler werden. Sobald mein Bekannter stolperte, riß ich ihn an seinem Kragen in die Höhe und sobald er seufzte, boxte ich ihn in den Kopf. Dabei fühlte ich, wie gesund mir der Ausritt in dieser guten Luft war und um ihn noch wilder zu machen, ließ ich einen starken Gegenwind in langen Stößen in uns blasen.

Jetzt übertrieb ich auch noch auf den breiten Schultern meines Bekannten die springende Bewegung, und während ich mich mit beiden Händen fest an seinem Halse hielt, beugte ich weit meinen Kopf zurück und betrachtete die mannigfaltigen Wolken, die, schwächer als ich, schwerfällig mit dem Winde flogen. Ich lachte und zitterte vor Mut. Mein Rock breitete sich aus und gab mir Kraft. Dabei preßte ich meine Hände kräftig ineinander, wodurch ich allerdings meinen Bekannten würgte. Erst als mir der Himmel allmählich durch die Äste der Bäume, die ich an der Straße wachsen ließ, verdeckt wurde, besann ich mich.

“Ich weiß nicht”, rief ich ohne Klang, “ich weiß ja nicht. Wenn niemand kommt, dann kommt eben niemand. Ich habe niemandem etwas Böses getan, niemand hat mir etwas Böses getan, niemand aber will mir helfen, lauter niemand. Aber so ist es doch nicht. Nur daß mir niemand hilft, sonst wäre lauter niemand hübsch, ich würde ganz gerne (was sagen Sie dazu?) einen Ausflug mit einer Gesellschaft von lauter niemand machen. Natürlich ins Gebirge, wohin denn sonst? Wie sich diese Niemand aneinander drängen, diese vielen quergestreckten oder eingehängten Arme, diese vielen Füße durch winzige Schritte getrennt! Versteht sich, daß alle im Frack sind. Wir gehen so lala, ein vorzüglicher Wind fährt durch die Lücken, die wir und unsere Gliedmaßen offen lassen. Die Hälse werden im Gebirge frei. Es ist ein Wunder, daß wir nicht singen.”

Da fiel mein Bekannter und als ich ihn untersuchte, fand ich, daß er am Knie schwer verwundet war. Da er mir nicht mehr nützlich sein konnte, ließ ich ihn nicht ungern auf den Steinen und pfiff mir einige Geier aus der Höhe herab, die sich gehorsam mit ernstem Schnabel auf ihn setzten, um ihn zu bewachen.

2

Spaziergang

Unbesorgt ging ich weiter. Weil ich aber als Fußgänger die Anstrengung der bergigen Straße fürchtete, ließ ich den Weg immer flacher werden und sich in der Entfernung endlich zu einem Tale senken. Die Steine verschwanden nach meinem Willen und der Wind verlor sich.

Ich ging in gutem Marsch, und da ich bergab ging, hatte ich den Kopf erhoben, den Körper gesteift und hinter dem Kopf die Arme verschränkt. Da ich Fichtenwälder liebe, ging ich durch solche Wälder, und da ich gerne stumm zu den Sternen schaue, so gingen mir auf dem Himmel die Sterne langsam auf, wie es ihre Art ist. Nur wenige gestreckte Wolken sah ich, die ein Wind, der nur in ihrer Höhe wehte, zur Überraschung des Spaziergängers durch die Luft zog.

Ziemlich weit meiner Straße gegenüber, wahrscheinlich auch noch durch einen Fluß von mir getrennt, ließ ich einen massig hohen Berg aufstehn, dessen Plateau mit Buschwerk bewachsen an den Himmel grenzte. Noch die kleinen Verzweigungen der höchsten Äste und ihre Bewegungen konnte ich deutlich sehn. Dieser Anblick, wie gewöhnlich er auch sein mag, freute mich so, daß ich als ein kleiner Vogel auf den Ruten dieser fernen struppigen Sträucher daran vergaß, den Mond aufgehen zu lassen, der schon hinter dem Berge lag, wahrscheinlich zürnend wegen der Verzögerung.

Jetzt aber breitete sich der kühle Schein, der dem Mondaufgang vorhergeht, auf dem Berge aus und plötzlich hob der Mond selbst sich hinter einem der unruhigen Sträucher. Ich jedoch hatte indessen in einer anderen Richtung geschaut und als ich jetzt vor mich hin blickte und ihn mit einem Male sah, wie er schon fast mit seiner ganzen Rundung leuchtete, blieb ich mit trüben Augen stehen, denn meine abschüssige Straße schien gerade in diesen erschreckenden Mond zu führen.

Aber nach einem Weilchen gewöhnte ich mich an ihn und betrachtete mit Besonnenheit, wie schwer ihm der Aufstieg wurde, bis ich endlich, nachdem wir einander ein großes Stück entgegengegangen waren, eine starke Schläfrigkeit verspürte, die, wie ich glaubte, eine Folge der Ermüdung durch den ungewohnten Spaziergang war. Ich ging eine kleine Zeit mit geschlossenen Augen, indem ich mich nur dadurch wachend erhielt, daß ich laut und regelmäßig die Hände aneinanderschlug.

Dann aber, als der Weg mir unter den Füßen zu entgleiten drohte und alles müde wie ich zu entschwinden begann, beeilte ich mich, den Abhang an der rechten Straßenseite mit allen Kräften zu erklettern, um noch rechtzeitig in den hohen verwirrten Fichtenwald zu kommen, in dem ich die Nacht, die uns wahrscheinlich bevorstand, verschlafen wollte.

Die Eile war nötig. Die Sterne dunkelten schon unbewölkt und ich sah den Mond schwächlich im Himmel, wie in einem bewegten Gewässer, versinken. Der Berg gehörte schon der Finsternis, die Landstraße endete zerbröckelnd dort, wo ich zum Abhang mich gewendet hatte, und aus dem Innern des Waldes hörte ich das sich nähernde Krachen stürzender Bäume. Nun hätte ich mich gleich auf das Moos zum Schlafe werfen können, aber da ich mich fürchte, auf Waldboden zu schlafen, kroch ich – rasch glitt der Stamm zwischen den Ringen der Arme und Beine hinab – auf einen Baum, der auch schon taumelte ohne Wind, legte mich auf einen Ast, den Kopf an den Stamm gelehnt und schlief hastig ein, indes ein Eichhörnchen meiner Laune mit steilem Schwanz auf dem bebenden Ende des Astes saß und sich wiegte.

Ich schlief traumlos und versunken. Mich weckte weder der Untergang des Mondes noch der Aufgang der Sonne. Und selbst wenn ich schon am Erwachen war, beruhigte ich mich wieder, indem ich sagte: “Du hast dich am gestrigen Tage sehr bemüht, darum schone deinen Schlaf” und schlief wieder ein.

Aber obwohl ich nicht träumte, war mein Schlaf doch nicht ohne fortwährende leise Störung. Die ganze Nacht durch hörte ich jemanden neben mir reden. Ich hörte kaum die Worte selbst, außer einzelne wie “Bank am Flußufer”, “wolkenhafte Berge”, “Züge mit erglänzendem Rauch”, sondern nur die Art ihrer Betonung; und ich erinnere mich, daß ich mir im Schlafe noch die Hände rieb, vor Freude darüber, daß ich die einzelnen Worte nicht erkennen mußte, da ich eben schlafend war.

“Dein Leben war einförmig”, so redete ich laut, um mich davon zu überzeugen, “es war wirklich nötig, daß du anders wohin geführt wurdest. Du kannst zufrieden sein, es ist lustig hier. Die Sonne scheint.”

Da schien die Sonne und die Regenwolken wurden weiß und leicht und klein im blauen Himmel. Sie glänzten und bäumten sich. Ich sah einen Fluß im Tale.

“Ja, es war einförmig, du verdienst diese Belustigung”, sagte ich weiter, wie gezwungen, “aber war es nicht auch gefährdet?” Da hörte ich jemanden entsetzlich nahe seufzen.

Ich wollte rasch hinunterklettern, aber da der Ast so zitterte wie meine Hand, so fiel ich erstarrt von der Höhe. Ich schlug kaum auf und hatte auch keine Schmerzen, aber ich fühlte mich so schwach und unglücklich, daß ich das Gesicht in den Waldboden legte, da ich die Anstrengung, die Dinge der Erde um mich zu sehn, nicht ertragen konnte. Ich war überzeugt, daß jede Bewegung und jeder Gedanke erzwungen seien, daß man sich daher vor ihnen hüten solle. Dagegen sei es das Natürlichste, hier im Grase zu liegen, die Arme am Körper und das Gesicht verborgen. Und ich redete mir zu, mich eigentlich zu freuen, daß ich in dieser selbstverständlichen Lage mich schon befinde, denn sonst würde ich vieler mühseliger Krämpfe, wie Schritte oder Worte bedürfen, um in sie zu kommen.

Der Fluß war breit und seine kleinen lauten Wellen waren beschienen. Auch am anderen Ufer waren Wiesen, die dann in Gesträuch übergingen, hinter dem man in großer Fernsicht helle Obstalleen sah, die zu grünen Hügeln führten.

Erfreut über diesen Anblick legte ich mich nieder und dachte, während ich mir die Ohren gegen gefürchtetes Weinen zuhielt, hier könnte ich zufrieden werden. Denn hier ist es einsam und schön. Es braucht nicht viel Mut, hier zu leben. Man wird sich hier quälen wie anderswo auch, aber man wird sich dabei nicht schön bewegen müssen. Das wird nicht nötig sein. Denn es sind nur Berge da und ein großer Fluß und ich bin noch klug genug, sie für leblos zu halten. Ja, wenn ich am Abend allein auf den steigenden Wiesenwegen stolpern werde, so werde ich nicht verlassener sein, als der Berg, nur daß ich es fühlen werde. Aber ich glaube, auch das wird noch vergehn.

So spielte ich mit meinem künftigen Leben und versuchte hartnäckig zu vergessen. Ich sah dabei blinzelnd in jenen Himmel, der in einer ungewöhnlich glücklichen Färbung war. Ich hatte ihn schon lange nicht so gesehn, ich wurde gerührt und an einzelne Tage erinnert, an denen ich auch geglaubt hatte, ihn so zu sehn. Ich gab die Hände von meinen Ohren, breitete meine Arme aus und ließ sie in die Gräser fallen.

Ich hörte jemand weit und schwach schluchzen. Es wurde windig und große Mengen trockener Blätter, die ich früher nicht gesehen hatte, flogen rauschend auf. Von den Obstbäumen schlugen unreife Früchte irrsinnig auf den Boden. Hinter einem Berg kamen häßliche Wolken herauf. Die Flußwellen knarrten und wichen vor dem Wind zurück.

Ich stand rasch auf. Mich schmerzte mein Herz, denn jetzt schien es unmöglich, aus meinem Leiden hinauszukommen. Schon wollte ich umkehren, um diese Gegend zu verlassen und in meine frühere Lebensart zurückzukehren, als ich diesen Einfall bekam: “Wie merkwürdig ist es, daß noch in unserer Zeit vornehme Personen in dieser schwierigen Weise über einen Fluß befördert werden. Es gibt keine andere Erklärung dafür, als daß es ein alter Brauch ist.” Ich schüttelte den Kopf, denn ich war verwundert.

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