Interpretation "Das Urteil" von Franz Kafka

Kafkas Vater gehört zweifelsohne zu den berühmtesten außerliterarischen Figuren auf dem Gebiet der Interpretationsversuche poetischer Texte. Er kann geradezu als Symbol für all jene Annäherungsweisen an Literatur gelten, die diese auf ein mehr oder weniger verschlüsseltes Verarbeiten individueller Erlebnisse des Autors reduzieren und im Aufweisen von Parallelen zwischen Leben und Werk das Ziel der Beschäftigung mit Literatur sehen.

Anhand von Kafkas Erzählung Das Urteil lässt sich dieses 'Deutungsmodell' besonders gut vorführen: hier scheint sich die Not eines jungen Mannes zu artikulieren, der von einem übermächtigen Vater ("'Mein Vater ist noch immer ein Riese', sagte sich Georg") an der Verwirklichung der eigenen Lebensziele gehindert wird. Seine Verlobung wird missbilligt, sein beruflicher Erfolg als Nutznießertum abgewertet. Durch die autoritäre, verständnislose Haltung des Vaters wird der junge Mann letztendlich vernichtet. Der Versuch der Rebellion (den Vater "zudecken") scheitert. Das patriarchalische Obrigkeitssystem siegt.

Sieht man genauer auf den Text, will dieses Interpretationsschema nicht so recht überzeugen. Zwar lässt sich die Tatsache, dass Georg Bendemann das Urteil sowohl annimmt als auch freiwillig ausführt noch als Zeichen für die vollständige Verinnerlichung der Machtstrukturen auslegen. Eine Reihe von Fragen bleibt jedoch unbeantwortet. Eine 'biographistische' Lesart gibt insbesondere wenig Aufschluss darüber, warum das Verhältnis zum Petersburger Freund einen so großen Raum einnimmt und welche Rolle diese Figur im Generationenkonflikt überhaupt spielen soll; völlig offen bleibt auch, worin die (angebliche oder echte) Schuld Georgs besteht.

Wie so oft bei Kafka, wird der Leser mit einem absurden Geschehen konfrontiert: Ein Mann wird von seinem Vater zum Tode verurteilt, weil er den Kontakt mit einem im Ausland lebenden Freund nicht intensiv genug gepflegt hat. Will man sich nicht darauf beschränken, hierin eine 'kafkaeske' Parabel für die Sinnlosigkeit der von undurchschaubaren Instanzen bestimmten Welt zu sehen, wie in den Romanen Der Prozeß oder Das Schloß, so muss im Text nach Hinweisen für ein näheres Verständnis der Geschichte (so der Untertitel) gesucht werden.

Auffällig ist die umständliche Begründung Georgs für sein "besonderes Korrespondenzverhältnis" mit dem Petersburger Freund, das dazu führt, dass "keine eigentlichen Mitteilungen" gemacht werden. Man erfährt nichts von der Beziehung zwischen beiden, außer, dass Georgs Rücksichtnahme dazu geführt hat, dem Freund alles Persönliche zu verschweigen. Dezente Schonung statt tätiger Hilfe – mit diesem Verhalten macht sich Georg 'schuldig'. Die Frage des Vaters, ob Georg denn wirklich einen Freund in Petersburg habe, zielt nur scheinbar auf die reale Existenz der fraglichen Person ab. Der Zweifel bezieht sich auf die Bezeichnung Freund. So trifft die Behauptung: "Du hast keinen Freund in Petersburg" den Tatbestand auf qualitativer Ebene tatsächlich.

Seiten