Ungekürztes Werk "Der grüne Heinrich" von Gottfried Keller (Seite 4)

in den steilen alten Gassen herumklimmen, sich kaum vor unserm Auge verbergen können, indem sie sich in ein Quergäßchen flüchten oder in einem Hause verschwinden. Es ist eine seltsame Stadt, mit einem altersgrauen Haupte und neuen glänzenden Füßen. Denn der Verkehr und das tätige Leben haben unten am Ufer, wo die befrachteten Schiffe ab- und zugehen, nichts Altes und Unbequemes gelassen und die Steinmasse fortwährend erneuert, während das Alter sich am Berge hinaufflüchtete, mitten an demselben, auf einem platten Vorsprunge in der kühlen byzantinischen Stadtkirche ausruhte und oben zuletzt auf der halbzerfallenen Burg stehen blieb. Seinen innigen Zusammenhang mit dem gegenwärtigen Leben beweist es jedoch in den riesenhaften Burglinden, welche ewig grün ihre Äste zu einem mächtigen Kranze verschlingen hoch über der Stadt, unmittelbar unter dem Himmel. Wo der Fluß sich schon merklich verengt und seine eigene Strömung annimmt, steht noch ein malerisches festes Brückentor und sendet eine lange hölzerne Brücke herüber, bedeckt von einem altertümlichen Dache, dessen Gebälke mit Schnitzwerk und verblichenen Schildereien überladen ist. Diesseits empfängt sie wieder ein grauer Turm, und aus diesem hervor führen mehrere Wege, teils dem Flusse entlang nach der Fläche hinaus, teils auf jähen Steigen auf den Felsenberg. An dessen Mitte ragt ebenfalls ein beträchtliches Plateau hinaus; es trägt, wie es oft bei Flußstädten vorkommt, eine Art Anhängsel oder kleineren Teil der Stadt, bestehend aus einem Kastell und ehemaligen Kloster, deren innere Räume und Höfe vollständig mit Gräbern angefüllt sind, da sie der Stadt schon seit Jahrhunderten zum Kirchhofe dienen. Die Gebäude aber enthalten ein Irrenhaus, ein Armenhaus oder Hospital und dergleichen mehr. Seltsam und düster haben sich Tod und Elend zwischen dem alten winklichten Gemäuer eingenistet, aus dessen Dunkelheiten die herrliche schimmervolle Landschaft das Auge umso mehr blendet. Und über die Gräber hin führt der Weg dann vollends, sich durch epheubewachsene Nagelflühe empor windend, auf den Berg, wo er sich in einem weitgedehnten prächtigen Buchenwalde verliert.

Unter einer offenen Halle dieses Waldes ging am frühsten Ostermorgen ein junger Mensch; er trug ein grünes Röcklein mit übergeschlagenem schneeweißen Hemde, braunes dichtwallendes Haar und darauf eine schwarze Samtmütze, in deren Falten ein feines weiß und blaues Federchen von einem Nußhäher steckte. Diese Dinge, nebst Ort und Tageszeit, kündigten den zwanzigjährigen Gefühlsmenschen an. Es war Heinrich Lee, der heute von der bisher nie verlassenen Heimat scheiden und in die Fremde nach Deutschland ziehen wollte; hier herausgekommen, um den letzten Blick über sein schönes Heimatland zu werfen, beging er zugleich den Akt eines Naturkultus, wie es häufig bei hoffnungsreichen und enthusiastischen Jünglingen geschieht.

So wenig, außer dem tiefen ruhigen Strömen des Flusses, ein Ton in dieser Frühe hörbar wurde, ebenso wenig war an der weiten tiefen himmlischen Kristallglocke der leiseste Hauch eines Wölk­leins zu sehen. Der weite See verschmolz mit den Füßen des Hochgebirges in eine blaugraue Dämmerung; die Schneekuppen und Hörner standen milchblaß in der Frühe. Als Heinrich an den Rand des Waldes trat, überflog der erste Rosenschimmer der nahenden Sonne die geisterhaften Gebilde; über dem letzten einsamen Eisaltar glimmte noch der Morgenstern.

Indem unser Knabe starr nach

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