Ungekürztes Werk "Der Schimmelreiter" von Theodor Storm (Seite 6)

Ich sag, du hättst versaufen können.‹

›Ja‹, sagte Hauke; ›ich bin doch nicht versoffen!‹

›Nein‹, erwiderte nach einer Weile der Alte und sah ihm wie abwesend ins Gesicht, ›diesmal noch nicht.‹

›Aber‹, sagte Hauke wieder, ›unsere Deiche sind nichts wert!‹

›Was für was, Junge?‹

›Die Deiche, sag ich!‹

›Was sind die Deiche?‹

›Sie taugen nichts, Vater!‹ erwiderte Hauke.

Der Alte lachte ihm ins Gesicht. ›Was denn, Junge? Du bist wohl das Wunderkind aus Lübeck!‹

Aber der Junge ließ sich nicht irren. ›Die Wasserseite ist zu steil‹, sagte er; ›wenn es einmal kommt, wie es mehr als einmal schon gekommen ist, so können wir hier auch hinterm Deich ersaufen!‹

Der Alte holte seinen Kautabak aus der Tasche, drehte einen Schrot ab und schob ihn hinter die Zähne. ›Und wieviel Karren hast du heut geschoben?‹ frug er ärgerlich; denn er sah wohl, daß auch die Deicharbeit bei dem Jungen die Denkarbeit nicht hatte vertreiben können.

›Weiß nicht, Vater‹, sagte dieser, ›so, was die anderen machten, vielleicht ein halbes Dutzend mehr; aber – die Deiche müssen anders werden!‹

›Nun‹, meinte der Alte und stieß ein Lachen aus; ›du kannst es ja vielleicht zum Deichgraf bringen; dann mach sie anders!‹

›Ja, Vater!‹ erwiderte der Junge.

Der Alte sah ihn an und schluckte ein paarmal; dann ging er aus der Tür; er wußte nicht, was er dem Jungen antworten sollte.

Auch als zu Ende Oktobers die Deicharbeit vorbei war, blieb der Gang nordwärts nach dem Haf hinaus für Hauke Haien die beste Unterhaltung; den Allerheiligentag, um den herum die Äquinoktialstürme zu tosen pflegen, von dem wir sagen, daß Friesland ihn wohl beklagen mag, erwartete er wie heut die Kinder das Christfest. Stand eine Springflut bevor, so konnte man sicher sein, er lag trotz Sturm und Wetter weit draußen am Deich mutterseelenallein; und wenn die Möven gackerten, wenn die Wasser gegen den Deich tobten und beim Zurückrollen ganze Fetzen von der Grasdecke mit ins Meer hinabrissen, dann hätte man Haukes zorniges Lachen hören können. ›Ihr könnt nichts Rechtes‹, schrie er in den Lärm hinaus, ›so wie die Menschen auch nichts können!‹ Und endlich, oft im Finstern, trabte er aus der weiten Öde den Deich entlang nach Hause, bis seine aufgeschossene Gestalt die niedrige Tür unter seines Vaters Rohrdach erreicht hatte und darunter durch in das kleine Zimmer schlüpfte.

Manchmal hatte er eine Faust voll Kleierde mitgebracht; dann setzte er sich neben den Alten, der ihn jetzt gewähren ließ, und knetete bei dem Schein der dünnen Unschlittkerze allerlei Deichmodelle, legte sie in ein flaches Gefäß mit Wasser und suchte darin die Ausspülung der Wellen nachzumachen, oder er nahm seine Schiefertafel und zeichnete darauf das Profil der Deiche nach der Seeseite, wie es nach seiner Meinung sein mußte.

Mit denen zu verkehren, die mit ihm auf der Schulbank gesessen hatten, fiel ihm nicht ein; auch schien es, als ob ihnen an dem Träumer nichts gelegen sei. Als es wieder Winter geworden und der Frost hereingebrochen war, wanderte er noch weiter, wohin er früher nie gekommen, auf den Deich hinaus, bis die unabsehbare, eisbedeckte Fläche der Watten vor ihm lag.

Im Februar bei dauerndem Frostwetter wurden angetriebene

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