Literaturepoche Sturm und Drang (Seite 4)

Als negativer Zwillingsbruder Goethes wird oft Jakob Michael Reinhold Lenz angesehen, dessen in geistiger Umnachtung endendes Leben (dem später Büchner ein literarisches Denkmal setzte) aus einem Stück des Sturm und Drang entsprungen scheint. Seine Dramen Der Hofmeister (1774) und Die Soldaten (1776) sind illusionslose Meisterwerke, die eine radikale Abrechnung mit dem vorgefundenen gesellschaftlichen System bedeuten. Heinrich Leopold Wagner hinterließ mit dem Drama Die Kindermörderin (1776) eine atmosphärisch dichte Schilderung kleinbürgerlichen Milieus und verlogener Sexualmoral, deren literarischer Wert noch viel zu wenig beachtet worden ist (wozu der Autor allerdings selber beitrug, indem er das Stück umarbeitete und ihm nebst einem happy end den Titel Evchen Humbrecht oder ihr Mütter merkt's euch verpaßte).

Nach der Eruption von 1776 schien die Bewegung zu verstummen, bis sich mit Friedrich Schiller ein letzter, intensiver Höhepunkt ereignete. Zeitversetzt, geographisch getrennt und ohne Verbindung zu den anderen Stürmern und Drängern, die sich ganz entschieden als Gemeinschaft empfanden, gestaltete er mit den Räubern, dem »republikanischen Trauerspiel« Die Verschwörung des Fiesko zu Genua (1783) und Kabale und Liebe (1784) drei Dramen, die alle Themen, von der politischen Revolte bis zur Freiheit der Leidenschaften, noch einmal bühnenwirksam umsetzten und die Epoche zum Abschluß brachten.

Der Sturm und Drang war ein heftiges Gewitter. Es ging rasch vorüber, doch sein Nachhall ist bis ins 20. Jahrhundert hinein zu vernehmen. Nicht nur die personelle Identität von Goethe und Schiller als spätere Hauptvertreter der Weimarer Klassik zeugt von der Wichtigkeit dieser Epoche: in dieser Zeit entstand der Urfaust, und Schillers spätere Dramen Don Karlos, Die Jungfrau von Orleans oder Wilhelm Tell tragen deutliche Reminiszenzen an die Empörerfiguren der ersten Jahre. Hölderlins Freiheitsstreben und tragisches Lebensgefühl lassen die Haltung des Sturm und Drang wieder anklingen, während die Romantik die Auseinandersetzung mit der Aufklärung im vollen Umfang wieder aufnimmt. Überhaupt sieht die Literaturgeschichte außerhalb Deutschlands diese Zusammenhänge großzügiger und ordnet den Sturm und Drang als frühen Ausdruck der Romantik ein – ist es Zufall, daß in Südeuropa das Drama zu ihrer wichtigsten Gattung wurde und Victor Hugo in seinem Préface zu Cromwell, dem Romantischen Manifest Frankreichs, gegen den Zwang der drei Einheiten polemisierte?

Die Verwandschaft der Vormärz-Literaten zu den Stürmern und Drängern ist nicht nur auf die politische Intention zu reduzieren; Büchners Werk kann in mancher Hinsicht als poetische Vollendung jener frühen Dramen der seelischen Zerrissenheit angesehen werden. Nietzsches Philosophie des Übermenschen (vgl. der große Kerl), seine antirationalistische Grundtendenz sind Weiterentwicklungen des Geniekults. Der Naturalismus – wieder eine Dramen-Periode! – schrieb die minuziöse Schilderung sozialer Mißstände auf sein Programm; viele seiner Vertreter beriefen sich ausdrücklich auf den Geist der Sturm-und-Drang-Generation und nahmen besonders in der Diktion Anleihen aus ihrer Dramaturgie. Aber auch der Expressionismus weist durch seine Betonung des Irrationalen, seine Unmittelbarkeit und seine als Schrei (Edvard Munch) konzipierte Geste Parallelen zu jener Umbruch-Periode auf. Und schließlich: mutet nicht auch, ob sie es nun wollte oder nicht, die Gruppe 47 mit ihren Kahlschlag-Parolen und ihrer sozialkritischen Einstellung wie eine moderne Version des Sturm und Drang an?

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